Edel, elegant, premium – so wirkt der Polestar 2 auf den ersten Blick. Doch kann das Elektroauto auch bei genauerem Hinschauen diese Erwartungen erfüllen? Wir haben den 52.725 € teuren Polestar 2 mit Single-Motor und 69 kWh-Batterie getestet und verraten euch, wie viel IKEA in dem skandinavischen Premium-Vehikel steckt.
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„Wow, ein Polestar“ – schon im Vorfeld waren wir sehr gespannt und hatten große Erwartungen. Polestar hat es mit einem starken Markenauftritt geschafft, ein Premium-Image aufzubauen und viele Begehrlichkeiten zu wecken. Der Polestar 2 will mit seinem minimalistischen skandinavischen Design und starker Performance überzeugen – und mit seinem (relativ) attraktiven Preis ab 43.725 € den elektrischen Massenmarkt aufmischen. Kann er diese Erwartungen erfüllen und hat er die Vorschusslorbeeren verdient?
Geely, Volvo oder was? – Wer steckt eigentlich hinter Polestar?
Viele haben von Polestar schon einiges gehört, aber die Wenigsten wissen Genaueres über die Marke mit dem Nordstern – deshalb hier nochmal zum Mitlesen: Ursprünglich hat Polestar seine Wurzeln im Rennsport, wurde 1996 gegründet und ist mittlerweile ein Joint Venture der Automobilhersteller Volvo und Geely. Polestar war als Haus-und-Hof-Tuner für Volvo tätig und ist seit 2017 zudem eine Eigenmarke für Elektroautos. Die Schweden gehen damit aber neue Vertriebswege – es gibt keine klassischen Händler wie üblich, sondern sogenannte Polestar Spaces. Die Fahrzeuge werden dort in einer Art Showroom ausgestellt, doch es werden keine Autos vor Ort zum Sofortkauf angeboten. Bestellt und konfiguriert werden können die in China produzierten Elektroautos entweder direkt in einem Polestar Space oder über die Polestar App sowie die Website.
Ausstattungsvarianten – Warum man beim Polestar 2 keine Qual bei der Wahl hat
In Sachen Modell- und Ausstattungsvarianten ist Polestar ähnlich progressiv und minimalistisch wie Genesis: kaum Farben, zwei Motorisierungen, zwei Akkuvarianten (Standard- und Langstreckenversion) sowie fix geschnürte Pakete – that’s it!
Jeder Polestar 2 kommt in der Basisversion für 43.725 € bereits serienmäßig mit LED-Scheinwerfern mit automatischem Fernlicht, 19-Zoll-Leichtmetallfelgen, Android-basiertem Betriebssystem, Sitzheizung für die Vordersitze und einem schlüssellosen Verriegelungs-Modus über das Smartphone. Das ist mehr als bei vielen Basis-Modellen anderer Hersteller.
Unser Polestar 2-Testfahrzeug mit Single-Motor und 69 kWh großer Lithium-Ionen-Batterie kam mit dem optional erhältlichen Plus-Paket und dem Pilot Lite-Paket für insgesamt 52.725 €. Mit dem 2.800 € teuren Pilot Lite-Paket bekommt der Polestar 2 einige Sicherheitsfeatures und Assistenten spendiert, die einem das Leben im Straßenverkehr erleichtern sollen. Das 4.800 € teure Plus-Paket wertet den Innenraum durch nützliche Details wie Panoramadach, elektrisch verstellbare Sitze mit veganen Bezügen, Harman-Kardon-Soundanlage oder induktives Ladefach für das Smartphone auf.
Einen individuellen Konfigurator, wie man ihn bei BMW, Porsche oder Mercedes findet, gibt es bei Polestar nicht. Die geringen Individualisierungsmöglichkeiten helfen, Komplexität zu reduzieren und die Fertigung sowie Preise schmal(er) zu halten. Eigentlich ein super Konzept, denn zu viele Wahlmöglichkeiten führen oft nur zu Verwirrung. Dass die Rechnung dennoch nicht ganz aufgeht, können wir an dieser Stelle aber schon mal vorwegnehmen.
Newschool in Oldschool? Haptik, Qualität, Sound und Innenraumkonzept beim Polestar 2
Viele E-Autos gehen komplett neue Wege und wollen eine neue Art der Fortbewegung auch haptisch und räumlich erlebbar machen, andere dagegen bleiben nah am „vertrauten“ Verbrenner-Fahrzeug, so wie der Polestar 2. Durch die massive Mittelkonsole erweckt er den Anschein, in einem klassischen Verbrenner zu sitzen und erinnert uns etwas an unseren Volvo-Firmenwagen. Ansonsten empfängt uns das Interieur mit einem fulminanten, aber schlichten Design: Textil-Flächen an Türverkleidungen und Armaturenbrett wechseln sich mit Kunstholz-Oberflächen und dunklen Farben ab, die für einen skandinavischen Look & Feel sorgen.
Für Wertwahrnehmung, Markenversprechen und emotionales Fahrerlebnis sind auch Details und das Sound-Design super wichtig –doch gerade hier offenbart der Polestar große Schwächen. Bei genauerem Hinsehen erkennt man unsaubere Spaltmaße am Armaturenbrett. So wird der Polestar dem Premium-Image nicht gerecht, und man fühlt sich eher an das berühmt-berüchtigte Billy-Regal von IKEA erinnert. Wird der Polestar per Funkschlüssel verriegelt, fällt zunächst der aus Kunststoff hergestellte und billig wirkende Autoschlüssel auf, als zweites das Schließgeräusch der Automatikverriegelung, das wie bei einem billigen Einstiegswagen klingt. Immerhin: Optional kann auf den kleineren Autoschlüssel in USB-Stick-Größe zurückgegriffen werden, oder das Smartphone dient als digitaler Schlüssel über die Polestar-App – beides wird dem Anspruch und Markenversprechen von Polestar schon eher gerecht. Der schmallippige Elektrosound bei langsamer Fahrt sowie beim Beschleunigen mag auf schwedisches Understatement zurückzuführen sein, ist aber keine Ausrede dafür, dass es ihm an Präsenz und Volumen fehlt und er ziemlich unauffällig, wenn nicht gar schüchtern wirkt. Dabei kann der richtige Sound Emotionen wecken und für eine höhere Identifikation sowie Wiedererkennungswert von Fahrzeug und Marke sorgen.
So wie Sound und Haptik an manchen Stellen dem Markenanspruch und -versprechen nicht gerecht werden, waren wir vom Auftritt – insbesondere dem Lichtdesign des Polestar – ebenfalls ernüchtert. Es wirkt bei unserem midnight-blauen Testfahrzeug bei weitem nicht so cool und sexy, wie es in der Markenkommunikation rüberkommt, ist aber mit angepasster Erwartungshaltung dann dennoch gelungen. Die Scheinwerfer an der Front wirken je nach Perspektive dynamisch oder unauffällig bis austauschbar. Die Rückleuchte des Polestar mit ihrem durchgängigen Lichtband und der dynamischen Animation beim Aufschließen weiß auf jeden Fall zu gefallen, vor allem bei Nacht! Es muss ja nicht gleich eine wuchtige Heckpartie mit geschwungenem Lichtdesign wie beim KIA EV6 sein, die das Fahrzeug von hinten wie ein Raumschiff aussehen lässt. Aber wer in seiner Kommunikation derart aufdreht, muss auch abliefern, um hohe Erwartungen zu erfüllen, statt zu enttäuschen!
Jede Menge Ladevolumen im Polestar 2
In der fünftürigen Fließheck-Limousine findet der Wocheneinkauf dank des 405 Liter fassenden Kofferraums entspannt Platz. Mit einem aus dem Boden hochklappbaren Aufsteller kann der Laderaum zusätzlich abgetrennt und so ein Verrutschen der Ladung verhindert werden. Bei Bedarf lässt sich die hintere Sitzbank umlegen und der Stauraum auf 1095 Liter erweitern. Auch sperrige Gegenstände können durch die weit nach oben öffnende Heckklappe gut eingeladen werden, so findet sogar ein Bike seinen Platz. Sollte der Platz im Kofferraum nicht reichen, kann der Polestar mit der optionalen (1250 € Aufpreis) und für Elektroautos nicht üblichen Anhängerkupplung eine Anhängelast von bis zu 1500 kg ziehen. Damit werden selbst große Einkäufe im Möbelhaus möglich.
Fahrbericht: Fahrspaß und Performance des Polestar 2
Auf den ersten Blick imponiert der Polestar 2 durch sein sportliches Auftreten, doch der Frontantrieb kann dieses Versprechen nicht konsequent auf die Straße bringen: Beim Überholen oder auf Beschleunigungsstreifen von Autobahnauffahrten bringt der 170 kW starke permanenterregte Synchronmotor die Leistung bei trockener Fahrbahn noch gut auf die Straße, bei nassem Asphalt oder beim Kavalierstart drehen die Räder hingegen schnell durch. Der traktionsstärkere Allradantrieb der Dual-Motor-Option wäre deutlich besser, um das e-typische Beschleunigungsverhalten sicher und sorglos auszukosten. Wer sportlichen Fahrspaß sucht, sollte auf jeden Fall den Long Range Dual-Motor für 7700 € Aufpreis kaufen. Punkten kann der Polestar mit einem definierten und dennoch komfortablen Fahrwerk. Allerdings sind gerade auf rauem Fahrbahnbelag die Fahrgeräusche im Innenraum deutlich zu hören.
One-Pedal-Driving ermöglicht es dem Fahrer, den Polestar 2 allein mit dem Gaspedal zu steuern, denn sobald man vom Gas geht, beginnt das schwedische Elektroauto made in China zu rekuperieren und bremst bis zum Stillstand ab. Die Stärke der Rekuperation kann in zwei Stufen eingestellt werden: Für entspanntes Fahren in der Innenstadt eignet sich der Kriechmodus, wodurch beim Loslassen des Bremspedals das Auto anfängt, vorwärts zu kriechen. Vorkonfigurierte Fahrmodi, wie man es von vielen anderen Autos kennt, bietet der Polestar 2 nicht. Vielmehr können der One-Pedal-Drive, der Kriechmodus sowie das Lenkgefühl unabhängig voneinander eingestellt werden. Das ist per se ja noch okay, aber eine Charakteränderung auf Knopfdruck würde unnötiges Klicken vermeiden und würde eine Anpassung auf unterschiedliche Fahrer oder Fahrstile deutlich vereinfachen und beschleunigen!
Immer muss man alles selber machen – die Assistenzsysteme des Polestar 2
Assistenzsystem ≠ Assistenzsystem – das merkt man beim Polestar 2 (Softwareversion P2.1) deutlich! Im Vergleich zum VW ID.3 regeln die Assistenzsysteme sehr grob und sind eher störend und unzuverlässig. Unser Polestar 2 verfügt über das 2800 € teure Ausstattungspaket Pilot Lite, das unter anderem die adaptive Geschwindigkeitsregelung und Adaptive Cruise Control, also den Spurhalteassistenten beinhaltet. Klingt gut, doch die Funktionsweise ist ziemlich enttäuschend: So werden Geschwindigkeitsschilder zwar erkannt, aber der Tempomat reguliert die Geschwindigkeit nicht nach und auch bergab wird sie nicht genau (ein)gehalten – so beschleunigt der Wagen bergab, was nicht nur in der Schweiz teuer werden kann. Das kennt wohl jeder Chef , wenn er Aufgaben verteilt: Wird es nur halb gemacht, kann man es auch gleich selber machen und stresst sich dabei weniger!
Zuverlässig hingegen wird der Abstand zum Vordermann durch den Abstandstempomaten eingehalten, und auch der Spurhalteassistent erkennt und hält die Spuren auf der Autobahn gut. Lediglich bei Dunkelheit hat er Probleme, die Fahrbahn zu erkennen. Sehr gut: Beim Ausparken warnt der Kollisionsassistent vor Querverkehr auf der Straße, was insbesondere in unübersichtlichen Situationen eine enorme Hilfe ist. In Kombination mit der 360°-Kamera, die auf dem großen Touch-Bildschirm angezeigt wird, verfügt man über eine gute Übersicht.
Das hochkant eingebaute Touch-Display befindet sich an der Mittelkonsole und kommt mit Android als Betriebssystem. Hier hat man wie am Smartphone Zugriff auf den App-Store und auch auf die meisten Apps. Polestar setzt auf Google Maps statt auf eine eigene Navigations-Software – was sehr gut funktioniert, solange man Internet hat: Staus werden frühzeitig erkannt, und die Zieleingabe fällt durch die Sprachsteuerung leicht. Steht keine Datenverbindung, dann funktioniert auch das Navigationssystem nicht – die bestimmt gut gemeinten Tipps, man solle „in der Zwischenzeit nach dem Weg fragen, jemanden anrufen oder Musik hören“, bringen da herzlich wenig. Ebenfalls schade: Apple-User können CarPlay nur via Kabel verwenden… im digitalen Zeitalter ist das schon sehr oldschool.
Polestar 2 – Reichweite, Laden und Ladegeschwindigkeit
Damit man sich bestmöglich auf den Verkehr konzentrieren kann, hat man die Option, das Navi nicht nur am großen Bildschirm anzuzeigen, sondern auch am digitalen Tachoinstrument. Reicht die Akkuladung für die anstehende Etappe nicht aus, wird man darauf aufmerksam gemacht, dass ein Laden erforderlich ist. Allerdings werden die Ladestationen nur auf Nachfrage in die Route integriert. Immerhin baut der Polestar 2 die Ladestopps inklusive erforderlicher Ladezeit ein. Google Maps-typisch erhält man beim Klick auf die jeweilige Ladestation Informationen zu Status, Ladegeschwindigkeit und möglichen Zahlungsarten.
An der Ladestation angekommen, ist das Ladekabel im Frunk unter der Haube stets aufgeräumt und schnell erreichbar – auch dann, wenn der Kofferraum voll ist. Ein weiterer Vorteil des im Frunk verstauten Ladekabels: Ein schmutziges Ladekabel verunreinigt nicht die Ladung im Kofferraum. Laut Hersteller schafft der Polestar 2 eine Ladegeschwindigkeit von bis zu 150 kW an Schnellladern, aber auch nur in der Spitze und wenn der Akku fast leer ist. Bei uns waren es in den besten Fällen bei einer Außentemperatur von 25 bis 30°C etwas über 100 kW. Ab ca. 50 % Füllstand fällt die Ladeleistung auf rund. 70 kW ab – wirklich schnell ist anders. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Ladegeschwindigkeit sowie die Reichweite von Elektroautos bei kälteren Temperaturen nochmals weiter absinken. Der Akku unseres Polestar 2 hat eine Kapazität von 69 kWh und soll laut Herstellerangabe bis zu 474 km weit kommen (WLTP). Bei unserem Testfahrzeug hatten wir auf etwa 1200 km – auf der Autobahn, Überland und in der Stadt zurückgelegt – einen Verbrauch von 20,4 kWh pro 100 km.
Unser Polestar 2: Marketing vs. Realität
Wir müssen gestehen: Wir hatten große Erwartungen an den Polestar 2, waren am Ende aber ziemlich ernüchtert. Der Polestar 2 besitzt ein progressives Image dank starker Markenkommunikation, in der Realität wirkt er jedoch konservativ und lange nicht so premium wie er erscheint. Die Tatsache, dass er sich in Sachen Raumaufteilung stark am „Verbrenner-Design“ orientiert, ist Geschmacksache. Anderes jedoch nicht: Der skandinavische Premium-Anspruch wird in vielen Details nicht erfüllt, vor allem, was das Sound-Design und die Verarbeitung angeht. Das erinnert alles eher an ein gewisses Möbelhaus aus Schweden. Leider wurde dort gespart, wo man es auf den ersten Blick nicht sieht. Sowohl die Ladegeschwindigkeit als auch die Assistenzsysteme sind nicht zufriedenstellend. Die digitalen Assistenten können helfen, aber auch stören. Ärgerlich ist, dass man dafür 2.800 € Aufpreis zahlen muss und am Ende doch Vieles selbst machen muss. Hier gibt es deutlich bessere Systeme am Markt, die den Fahralltag zuverlässiger und smarter erleichtern.
Alter Schwede! Der Polestar 2 will Zukunft vermitteln, schwächelt jedoch schon aktuellen Standards. Die aufpreispflichtigen Assistenzsysteme, die Verarbeitung im Detail, das Sound-Design und die Ladegeschwindigkeit offenbaren Schwächen. Wer jedoch eine elegant wirkende, kompakte Limousine im klassischen Design und Twists wie die markante Heckleuchte sucht, kann hier fündig werden. Unser Tipp: Mit dem Dual-Motor holt man sich mehr Fahrspaß und Performance in den Polestar 2!
Tops
- klassisches Verbrenner-Design
- Frunk für Ladekabel
- Google Maps-Navi, sofern Datenverbindung vorhanden
- Option für Anhängerkupplung
- Heckleuchten-Design
Flops
- Premium-Image und Markenversprechen wird in Realität nicht erfüllt
- ohne Datenverbindung Google Maps-Navi nutzlos
- Ladestationen werden nur auf Nachfrage integriert
- geringe reale Ladegeschwindigkeit
- unzuverlässige und unpräzise Assistenzsysteme
- E-Frontantrieb = weniger sportlicher Fahrspaß
Konfigurations-Tipp: Long Range Dual-Motor
Alle getesteten E-Autos: City Transformer Prototyp | Fiat 500e | Honda e | KIA EV6 | Opel Rocks E | Polestar 2 | Porsche Taycan | Smart EQ Forfour | Tesla Model 3 Dual Motor Long Range | VW ID.3 | VW ID.BUZZ
Words: Mike Hunger Photos: Mike Hunger, Robin Schmitt