Taner Erdogan ist einer der besten Kung-Fu-Meister der heutigen Zeit. Der 45-Jährige hat nicht nur seine eigene Kung-Fu-Organisation gegründet, sondern Kung-Fu auch auf das Wesentliche reduziert. Die Quintessenz lässt sich auch auf Arbeit, Beziehungen und das ganze Leben übertragen.
Sifu ist in der chinesischen Sprache die respektvolle Anrede für einen Meister bzw. Lehrer und wenn man Sifu Taner Erdogan das erste Mal trifft, merkt man schnell: Er hat etwas Besonderes an sich. In seiner Art zu reden, in dem Funkeln in seinen Augen, in seiner Ruhe im Umgang mit seinen Schülern. Seit 26 Jahren praktiziert der türkischstämmige Deutsche jetzt schon Kung-Fu, hat von vielen Meistern gelernt, vieles infrage gestellt und dabei sein eigenes System entwickelt. Für ihn zählt nicht die Kunst, sondern das, was funktioniert. Deshalb ist er selbst sein größter Gegner.
Sifu Taner ist aber nicht nur Kampfkünstler mit Leidenschaft, er fährt auch gerne Rad. Im Sommer lässt er sogar häufig seinen Porsche in der Garage stehen und fährt mit dem Bike in seine Schule.
Wir waren mit ihm biken (zwei Stunden), haben es mit dem Fighten versucht (zwei Sekunden) und haben uns dann auf das konzentriert, was wir am besten können: ein Interview zu führen! Dabei haben wir uns von Taner in sein Kung-Fu-System einweihen lassen und nicht nur besser kämpfen gelernt, sondern auch, wie man mit Stress und Druck im Alltag umgeht und das Wesentliche findet.
Taner, was ist Kung-Fu?
Kung-Fu ist ein Überbegriff für einen Kampfsport wie Karate. Auch bei Kung-Fu gibt es unzählige Stile. Bei dem Wing-Chun-Stil, den ich praktiziere, geht es darum, mit den gegebenen Möglichkeiten einen maximalen Erfolg zu erzielen. Dabei gehen wir immer davon aus, dass der Gegner größer, stärker und schwerer ist – also alles Dinge, die für mich nachteilig sind. Mein Anspruch ist jedoch, mit meinen Mitteln gegen ihn ankommen zu können, idealerweise sogar immer mit so wenig Anstrengung wie möglich. Vom Kampfaspekt betrachtet ist das der Hauptteil.
Das Ziel ist maximale Effizienz durch deinen Körper, so wie er ist. Nicht durch extra Muskelaufbau oder Vorbereitungen wie Dehnen. Nein, genau so, wie du bist, daraus wollen wir das Maximale herausholen. Eigentlich sind wir ziemlich faul. (lacht) Natürlich verändern sich dein Körper, dein Körperbewusstsein und deine Fähigkeiten durch das Kung-Fu-Training, aber es geht immer um das Hier und Jetzt. Wenn es hart auf hart kommt, kannst du auch nicht sagen: „Moment, lass uns in einem halben Jahr wieder treffen, dann bin ich besser trainiert.“
Was ist das Besondere an Kung-Fu?
Kung-Fu macht etwas mit dir. Weit über deine Verteidigungsfähigkeit und banale Techniken hinaus gibt dir Kung-Fu eine enorme innere Ruhe und hilft dir, dich selbst besser im Griff zu haben. Die Selbstsicherheit führt dazu, dass du in den unterschiedlichsten Situationen cooler bleibst, emotional und mental.
Der Weg dorthin war für mich wie ein Puzzle – ich habe versucht, ein Bild zu vervollständigen. Im Laufe der Jahre haben sich in den Kung-Fu-Systemen, die mir beigebracht wurden, immer wieder gewisse Lücken gezeigt, die mir wenige beantworten konnten. Deshalb habe ich mich auf die Suche begeben. Wer macht es vielleicht besser? Und so habe ich mir unterschiedlichste Stile und Kampfkünste angeschaut. Der eine macht vielleicht eine Sache besser, eine andere wiederum schlechter. So hat sich das Puzzle immer weiter vervollständigt und am Ende habe ich erkannt: Es kann nur so funktionieren, schon allein aus anatomischen und physikalischen Gründen.
Das Kung-Fu-System ist eines der egozentrischsten Systeme, die es überhaupt gibt. Es dreht sich alles um dich selbst. Nicht um den Typen, der vor dir steht und dich hauen will. Kann auch gar nicht anders sein, weil du ja deinen Körper und deinen Geist in den Griff kriegen musst, um in einer solchen Situation effektiv und richtig zu handeln. Die meisten verlieren einen Kampf bereits, bevor sie überhaupt Kampfkontakt bekommen haben – vorausgesetzt, das Gegenüber weiß, was es tut. Am Anfang gilt es deshalb erst mal, sich selbst kennenzulernen: Was kann ich? Was können die Arme? Was die Beine? Wie übertrage ich tatsächlich Kraft? Gerade das Kraftverständnis ist bei vielen sehr falsch. Die denken: Je mehr ich Power gebe, desto mehr kommt an – nee! Kraft wird überwiegend über Entspannung und Geschwindigkeit übertragen. Wenn ich etwas Entspanntes beschleunige, übertrage ich Kraft am effektivsten. Wenn ich etwas Angespanntes beschleunige, kommt mehr Trägheit zustande und die Kraft, die ankommt, ist geringer. Das muss ich erst mal begreifen und auch verstehen, was „entspannt“ denn überhaupt ist. Deshalb ist es so wichtig, den Körper richtig kennenzulernen. Welche Muskulatur ist wichtig? Welche sollte ich anspannen und welche darf ich nicht anspannen? Welche ist förderlich, welche ist nicht förderlich?
Das machen wir tagtäglich, z. B. wenn wir Fahrradfahren. Da ist es total unnötig, sich in den Lenker festzukrallen, sich hart zu machen und dann zu versuchen, über einen Trail zu heizen oder über eine Bordsteinkante zu fahren – da blockiert man sich ja selber. Wer die physikalischen und anatomischen Vorteile richtig ausnutzen möchte, braucht Flexibilität, Dynamik und die richtige Balance zwischen Anspannung und Entspannung, um abzufedern und den Schwung durch das Rad mitzunehmen, damit die Belastung für den Körper so gering wie möglich ist. Und genau so funktioniert Kung-Fu später auch. Im Laufe der Zeit lernt man sich so gut kennen, dass einem erst mal bewusst wird, was man mit seinem Körper eigentlich alles tun kann. Wenn ich einem Laien nur ein paar Basics zeige, dann schauen die mich immer mit unglaublichen Blicken an und sagen „Hey, das hast du doch gerade mit Absicht gemacht“, weil sie nicht glauben können, wie viel Kraft man übertragen kann, wenn man einfach entspannt ist.
Wie wird man vom Follower zum Leader? Muss man Lehrer und Meister hinterfragen, um seinen eigenen Weg zu finden?
Am Anfang ist es sehr wichtig, dass du die Dinge genau so machst, wie es dein Lehrer sagt. Auch wenn du der Meinung bist, dass du es besser könntest, ist es super wichtig, Lehrern oder Leuten im Allgemeinen zuzuhören. Beim Lernen darf es nie um dein Ego gehen, es geht vielmehr um das Wissen und die Fähigkeiten, die du dir aneignen möchtest. Man kann das auch so vergleichen: Muhammad Ali hätte seinen Box-Lehrer vermutlich in zwei Sekunden K.O. geschlagen. Aber darum geht’s ja nicht. Es geht darum, dass der Lehrer dich zum Champion macht – so wie es Muhammad Alis Lehrer getan hat.
Deshalb ist es ratsam, sich zurückzunehmen, wenn man verschiedene Leute kennenlernt, um von ihnen zu lernen. Wer immer nur redet oder bereits meint, alles zu wissen, der kann weder richtig zuhören noch lernen. Das wird leider immer wieder vergessen. Gerade im Kampfsport verliert man sich schnell darin, den Lehrer oder die Kollegen übereifrig beeindrucken zu wollen. Dabei geht es nie um die anderen, sondern immer um sich selbst, wenn man besser werden will. Ich hatte und habe heute großartige Lehrer, denen ich überaus dankbar bin.
Am Anfang hast du gar keine andere Wahl als den Lehrer zu kopieren und nachzuahmen – allerdings immer mit dem Bewusstsein im Hintergrund, dass du mit deinem Körper und Geist ein Individuum bist. Aus der Kopie heraus kristallisiert sich dann langsam das heraus, was du bist. Und dann fängst du an, wie Bruce Lee es so schön formuliert hat, dich aus der Kunst heraus selbst auszudrücken. Beim Erlernen einer Kampfkunst musst du dich am Anfang erst der Form anpassen und dann kannst du nach und nach aus der Form heraustreten.
Viele wollen im Leben immer 100 % geben, möglichst in allen Lebensbereichen. Wir verrennen uns in unzähligen Details und verlieren den Blick auf das große Ganze – wie erkennst du das Wesentliche?
Über die Zeit merkst du, was dein Körper annimmt und was nicht. Wo er sich wohlfühlt und wo nicht. Vor ein paar Jahren bin ich an den Punkt gekommen, an dem ich angefangen habe, all das, was ich über die Jahrzehnte gelernt hatte, wegzuschmeißen, weil es sich tatsächlich nur um fünf bis sechs Bewegungen dreht. Und nicht mal diese fünf bis sechs Bewegungen sind wichtig. Wenn man effektiv nur 1 % der Schläge im Kampf einsetzt, jedoch permanent 100 % der Schläge lernt, dann ist das sehr ineffizient und man hat sehr viele Verluste drin. Also versuche ich, die 100 % zu reduzieren, damit das 1 % am Ende für mich zu 100 % wird. Und dort bewegen wir uns aktuell mit meinem System. Das heißt, wir machen unheimlich wenige Bewegungen und versuchen diese wenigen Bewegungen, die ich tatsächlich im Kampf benutzen werde, auf die 100 % zu bringen. Geht im Grunde auch gar nicht anders. Wir haben zwei Arme, der Gegner auch. Du kannst mit den Armen nur parallel, gekreuzt oder innen und außen landen. Das sind vier Bewegungen und dazu gibt es vier Techniken. Durch das Training machst du die nicht mal aktiv, sondern sie geschehen sogar passiv. Und mehr kann gar nicht passieren, es sei denn, es kommt jemand mit vier Armen – aber dann haben wir ein anderes Problem. Bruce Lee hat mal gesagt: „Fürchte nicht den, der 10.000 Kicks kann, sondern denjenigen, der einen Kick 10.000 Mal geübt hat.“ Deshalb müssen wir erst einmal verstehen, was wir für den Kampf tatsächlich brauchen, bevor wir uns wahllos im Erlernen aller Techniken selbst ertränken.
Was sind deiner Meinung nach die größten Herausforderungen im Kampf?
Der größte Kampf ist immer gegen uns selbst. Die Techniken können nur funktionieren, wenn der Geist mit dem Körper kooperiert. Sobald ich mich kontrollieren kann und meine Bewegungsabläufe im Griff habe, kann ich ganz genau entscheiden, wann ich wie zu handeln habe. Werde ich wütend oder nicht wütend? Werde ich aggressiv oder bleibe ich ruhig? Du zwingst deinen Geist, die Bewegung an gewissen Stellen einfach zu stoppen oder weiterzuführen. Du nimmst Gier und das falsche Ego heraus. Das soll am Ende eine extreme emotionale Kontrolle ermöglichen. Wenn du das nicht kannst, handelst du häufig zu voreilig, gehst schnell aus deiner Deckung und riskierst Unnötiges. Mit etwas Glück kann das natürlich gut gehen, aber es kann eben auch böse in die Hose gehen. Das gilt nicht nur im Zweikampf, sondern auch im Arbeitsleben oder der Beziehung, wenn dir ein Mitarbeiter oder dein Partner auf den Geist geht. Das sind ja auch Kämpfe, die man austrägt.
Wenn man sich festfährt und man will, man will, man will auf Teufel komm raus, dann geht meist irgendetwas schief. Weitaus klüger ist es so zu handeln, wie es die Situation erfordert und wie die Fähigkeiten da sind. Und so ist es auch im Kampf: Du musst im richtigen Moment das tun, was du kennst und kannst. Du darfst dich nicht beeinflussen lassen, sondern musst über deine Handlungen selbst bestimmen. Ansonsten rennst du immer nur hinterher. Auch warten können ist sehr wichtig. Das Schöne ist, im Kung-Fu merkt man ganz schnell, wenn man die falsche Bewegung im falschen Moment gemacht hat – das spürt man. (lacht)
Raum, Zeit und Energie sind extrem wichtig. Wenn du diese Faktoren beherrschst und die richtige Distanz zu den Dingen einnehmen kannst, entsteht eine extreme Selbstsicherheit und Stärke in dir und das macht dich ruhig. Und wenn du ruhig bleibst, wird es sehr schwer, dass dich jemand anderes kontrollieren kann. Das erfordert natürlich viel Übung, aber so kultivierst du dich.
Wichtig ist, dass du ein extremes Selbstvertrauen aufbaust. Du musst dir, deinen Bewegungen und dem System glauben können. Damit steht und fällt am Ende alles. Wenn du Selbstzweifel hast, funktioniert das nicht. Das versuche ich auch den Kleinen, meinen Kung-Fu-Pandas bzw. meinen Kids-Gruppen, zu vermitteln. Sobald ein Kind körperlich etwas zustande bringt, baut es Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit auf – in allen Dingen. Die sollen merken, was sie mit ihrem Körper leisten können und Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln. Und dazu müssen sie erst mal ihren Körper kennenlernen, wie die Erwachsenen auch, nur eben ein bisschen anders. „Ich kann das nicht“ oder „Ich schaffe das nicht“ gibt es bei mir als Satz nicht. Das existiert nicht. Wir probieren und trainieren und können’s irgendwann, vielleicht nicht heute, aber wir arbeiten darauf hin. Ich finde es super wichtig, den Kindern beizubringen, dass sie nicht schwächer sind, nur weil sie kleiner sind, etwas mehr auf die Waage bringen oder sonst irgendetwas. Mir liegt es am Herzen, dass Kinder nicht gehänselt werden, sondern sich zu starken Persönlichkeiten entwickeln können. Das gilt übrigens auch für Erwachsene: Man muss verstehen, dass man Fähigkeiten nicht einfach nur hat, sondern dass jeder seine Fähigkeiten immer weiter entwickeln kann, egal in welchem Alter. Da gibt es viele, die irgendwann aufhören, etwas lernen zu wollen, und die sagen: „So, das bin ich jetzt.“ Das ist schade, denn damit verschenken sie so viel Potenzial. Letztes Jahr habe ich einige neue Schüler in meiner Kung-Fu-Schule aufgenommen, die weit über 50 sind. Es ist falsch zu glauben, Kampfsport sei nur etwas für Junge. Die asiatischen Kung-Fu-Meister praktizieren noch, wenn sie jenseits der 80 sind – und hauen dich im Zweifel um.
Oftmals ist das theoretische Wissen, wie wir mit einer Situation umgehen sollten, ja da. Aber wie kommt man mit Stress in brenzligen Situationen zurecht? Das ist ja der Punkt, an dem wir uns meist verlieren.
Eines unserer Ziele im Kung-Fu ist, dass du lernst, unter Druck, Stress und Geschwindigkeit zu bestehen, also dass du deine Handlungsfähigkeit nicht aufgibst. Baut jemand im Kung-Fu Druck auf, versucht er ja nichts anderes, als dich aus deiner Mitte herauszukriegen, damit er dich treffen kann. Und du musst eben mit Entspannung deine Mitte beibehalten und das geht nur, wenn du ihm nicht die Kraft zurückgibst, die er dir gibt. Wenn zwei Kräfte frontal aufeinandertreffen, dann gewinnt immer der, der kräftiger in dem Moment ist. Also nimmst du seine Kraft, gibst aber von dir nichts ab. Und damit kontrollierst du permanent deine Mitte und bleibst immer handlungsfähig. Auch wenn das sehr schnell vonstatten geht, sieht man von außen eine extreme Souveränität in deinen Bewegungen. Erst das Gegensteuern und unkontrollierte Reagieren löst dann tatsächlich den Stress aus.
Im Kung-Fu wollen wir permanent nach vorne gehen – das heißt aber nicht, dass wir es immer tun. Der Druck oder die Kraft des Gegners veranlasst einen immer mal wieder dazu, rückwärts zu gehen, und das tun wir, um unsere Mitte zu schützen und die Kontrolle zu behalten. Das ist wie ein fast volles Glas Wasser, in das dein Gegenüber noch mehr Wasser nachschütten möchte. Bevor das Glas überläuft, ziehst du es zurück und trinkst einen Schluck ab, damit du Kapazität für neues Wasser hast. Andernfalls läuft es über und du verlierst die Kontrolle und hast die Sauerei.
Wenn du dich nicht im Griff hast, stresst dich jeder. Da ist einer, der ist schlecht drauf und nervt dich, schon bist du gestresst. Aber den Stress löst nicht er aus, der Stress wird in dir ausgelöst.
Wenn Druck auf dich ausgeübt wird, musst du entweder ausweichen oder Druck abfangen können und dich fragen: Wie kann ich das wieder umwandeln? Druck und Stress sind letzten Endes energetische Potenziale, die dich in Bewegung bringen. Wie schaffe ich es, diese Bewegung zu nutzen, quasi den Schwung positiv mitzunehmen, oder mich zu beruhigen? Das gelingt aber erst, wenn du merkst, dass in allem immer etwas Positives steckt.
Das heißt, Ruhe bewahren, positiv denken und alles wird gut?
Als ich noch nicht selbstständig war, habe ich für einen großen schwäbischen Konzern gearbeitet, und mein dortiger Chef ist mit meiner Ruhe absolut nicht zurechtgekommen. Einmal hat er mir gesagt: „Es kotzt mich tierisch an, dass Sie hier so ruhig herumsitzen, obwohl Sie genau wissen, was hier gerade auf dem Spiel steht.“ Er hat nie verstanden, dass alles immer funktioniert hat und ich abgeliefert habe. Es hat ihn meiner Meinung nach nur genervt, weil er genervt und gestresst war, und er gesehen hat, dass ich nicht genervt und gestresst war.
In manchen Situationen muss man einfach mitstressen.
Auch in Beziehungen kann so etwas zu Problemen führen. Mittlerweile habe ich gelernt, dass man bei manchen Menschen den Stress simulieren muss. Mit Ruhe und Gelassenheit in solchen Situationen konnte mein Chef nicht umgehen, und das können viele nicht. Würde ich wieder dort bei ihm arbeiten … ich glaube, heute würde ich ihm den Stress, den er sich von mir wünscht, zeigen. Ich glaube, dann wäre er glücklich.
In manchen Situationen muss man einfach mitstressen. Der große Unterschied ist aber, dass du das sehr bewusst machst und es beim anderen unbewusst und unfrei abläuft. Du behältst die emotionale Kontrolle und entscheidest, wie du reagierst. Das ist ein ganz anderes Gefühl. Du hast zwar Stress, aber der ist extrem kontrolliert.
Es gibt immer zwei Möglichkeiten: Wenn dich jemand anschaut und dir geradeaus ins Gesicht sagt „Du blödes Arschloch“, dann kannst du ihm im Affekt eine aufs Maul hauen. Oder du haust ihm trotzdem aufs Maul, aber voll kontrolliert. Oder du machst gar nix. (lacht) Du kannst so oder so handeln, aber in dem einen Fall ist es wie bei einer Marionette: Dein Gegenüber zieht an einem Seil und du hebst deinen Arm hoch. Im anderen Fall zieht er an dem Seil und du überlegst dir bzw. entscheidest selbst, ob du deinen Arm heben willst oder nicht.
Ich war vor vielen Jahren mal auf einem Geschäftsessen in Köln. Wir saßen beim Mexikaner und mein Steak war gerade gekommen. Ein Kellner ist hinter mir vorbeigelaufen, hat mit dem Ellbogen meinen Kopf berührt und irgendwie ist die ganze Salsa-Soße, die er in der Hand hatte, oben in mein Hemd rein und bis in meine Hose runter gelaufen. Genau in dem Moment war ich dabei, mein Fleisch zu schneiden. Und ich habe einfach weiter geschnitten, es in den Mund genommen und genossen. Meine Kollegin, die gegenüber saß, hat mich mit ganz großen Augen angeschaut und gesagt: „Du Taner, der Kellner hat dir gerade eine ganze Salsa-Soße in dein Hemd geschüttet.“ Und ich hab gesagt: „Ja, ich weiß.“ Aber was soll ich denn machen in einem solchen Moment? Ich kann aufspringen, den Kellner anbrüllen und zusammenscheißen. Aber was würde es bringen? Ich habe dann in aller Ruhe Gabel und Messer hingelegt, bin aufgestanden, dann kam der Kellner schon mit Lappen und allem. Ich bin hingegangen, hab Dankeschön gesagt und bin auf die Toilette gegangen, um mich zu waschen, und bin dann wieder zum Tisch gegangen. Es geht wirklich um diese Momente, in denen du merkst: Es ist etwas passiert und jetzt, jetzt geht es um die Kontrolle. Flippst du aus, schreist du rum – und ändert das etwas an der Situation? Nein. Es ändert nichts mehr. Deshalb geht es jetzt nur noch um Kontrolle und bewusste Handlungen. Wenn du ihn anschreien willst, dann schrei ihn an. Aber ich weiß ja, er hat das nicht mit Absicht gemacht, also warum soll ich ihn anbrüllen? Es war ihm ja peinlich genug und vielleicht ist sein Chef ein Arsch und feuert ihn sogar. Dass ich so ruhig geblieben bin, konnte am Tisch keiner verstehen. Aber zugegeben: Mit Salsa-Soße im Nacken sein Fleisch weiter zu schneiden, das ist schwer. Sauschwer. Aber es geht.
Wie bereits vorhin gesagt: Wenn du deinen Körper nicht kontrollierst, dann kontrollierst du deinen Geist nicht. Macht dein Körper irgendetwas aus hektischen Bewegungen heraus, denkt dein Geist „Oh mein Gott, ich muss das Ding abwehren“ und bumm, wurdest du schon erwischt. Dann kommst du genau da raus, wo du eben nicht sein willst. In solchen Momenten kontrolliert dich dein Gegner massiv und beeinflusst deine Bewegungen. Das darf nicht passieren, auch im Alltag nicht. In solchen Situationen denke ich immer an das Bild von der Marionette. Natürlich ist das ein kontinuierlicher Prozess, aber man kann jeden Tag in jeder Situation lernen, darin besser zu werden – das ist das Schöne daran!
Im Kung-Fu handelst du irgendwann nur noch intuitiv, deine Arme wissen, was und wie sie es zu tun haben aufgrund der unzähligen Wiederholungen im Training. Irgendwann bist du so schnell, dass du die Handlung deinen Armen übergibst, du bist nur noch Beobachter von dem, was deine Arme da machen. Du weißt ganz genau, wann es zu spät ist, um zu handeln, und ob eine Aktion oder Reaktion noch etwas bringt oder nicht. Wenn etwas schon getan wurde und du es eh nicht mehr rückgängig machen kannst, liegt es an dir, was du aus der Situation machst. Und ich bin der Meinung, wenn man ruhig bleibt, macht man das Beste daraus. Da rasen die Gedanken in deinem Kopf, während dir die Salsa-Soße den Rücken runterläuft und dann denkst du im Idealfall: Scheiße, schon passiert! Aber das Steak ist noch warm und ich habe es gerade angeschnitten. Warum sollte ich mir meinen Abend davon kaputt machen oder den Genuss nehmen lassen, das Steak zumindest noch warm zu kosten? Sind wir uns unseren Handlungen nicht bewusst, lassen wir Menschen uns von allem Möglichen beeinflussen. Vor allem von super unwichtigen Dingen. Wie kann es sein, dass die Leute bei der Parkplatzsuche teilweise derart eskalieren, dass es zu Handgreiflichkeiten kommt? Da frage ich mich immer: Um was geht’s hier eigentlich? Das heißt nicht, dass man immer nachgeben muss, aber man sollte zumindest bewusst und angemessen handeln.
Bei allem Streben nach Kontrolle und Bedachtsamkeit sollte man jedoch nicht vergessen, dass wir Menschen sind. Wir haben manchmal gute und manchmal schlechte Tage. Manchmal reagiert man auf etwas, manchmal steht man darüber. Jeder hat mal einen Scheißtag oder lässt sich emotional packen. Auch das muss man annehmen, auch das ist okay. Es ist halt so. Man ist ja kein Roboter. Sich die jeweilige Situation jedoch bewusst zu machen – egal ob man darauf so reagiert hat, wie man es sich gewünscht hat – ist genau das, was einen weiterbringt.
Was macht einen Meister aus?
Ich bin der Meinung, dass es nie wirklich einen einzigen Meister gibt. Du befindest dich immer in einer Lernphase. Du bist dein ganzes Leben lang Schüler, lernst permanent neu, siehst Sachen neu und entwickelst dich kontinuierlich weiter. Ich glaube, das ist eine Meisterschaft. Wenn du sagst „Ich bin ein Meister und ich kann das“, dann ist das meiner Meinung nach ein Stillstand. Und das führt dann zu einem Rückgang. Wahre Meisterschaft ist, wenn du weißt, was du bislang alles gelernt hast, und trotzdem immer noch anderen zuhörst und von Leuten lernst, von denen du denkst, dass sie nicht so gut wie du selbst sind – aber vielleicht haben sie ja trotzdem Informationen für mich. Ich glaube, einen Meister macht auch aus, dass er nicht befangen ist, sondern offen bleibt und immer weitergehen, sich entwickeln und vervollkommnen will.
Diese Frage hätten wir bereits am Anfang stellen können, aber hier am Schluss passt sie auch gut: Was bedeutet „Kung-Fu“ eigentlich?
„Kung-Fu“ bedeutet übersetzt, mit wenig Aufwand viel zu erledigen bzw. harte Arbeit mit Leichtigkeit zu erledigen. Mit Leichtigkeit eine Sache tun, obwohl es schwer ist. Das ist eine Fähigkeit, die du dir durch harte Arbeit angeeignet hast. Der andere fliegt drei Meter weg, obwohl es von außen so aussieht, als ob du nur deinen Arm gestreckt hättest. Das ist für mich Kung-Fu. Auch ein Meisterkoch reist, verkostet und guckt, was die anderen in anderen Ländern machen, und besucht Köche, die sich noch keinen Namen gemacht haben. Das ist Kunst, weil sie immer weiter lernen wollen. Bei Kindern ist das nichts anderes. Wir lernen ja auch viel von Kindern, wenn wir zuhören. Sie stoßen uns manchmal regelrecht vor den Kopf. Blöd ist es nur zu sagen: „Ich bin erwachsen, was will der kleine Knirps mir da erzählen?“ Das ist Stillstand. Ich glaube, das alles ist Kung-Fu. Wasser bzw. ein Fluss ist ein gutes Beispiel. Er denkt nicht, hat weder Zukunft noch Vergangenheit, ist permanent da, fließt permanent nach vorne, sucht sich immer den leichtesten Weg. Das Wasser wird nicht anfangen, zu sagen: „Da ist zwar ein Weg, aber lass uns mal hier links über den Stein über die Böschung in eine andere Richtung gehen.“ Nein, das Wasser sucht sich immer den Weg des geringsten Widerstandes. Aber wenn es geballt und unter Druck kommt, dann bläst es dich weg. Egal was das Wasser tut, eines macht es immer: Es fließt vorwärts und hört nicht auf. Und wenn ich das meinen Kindern erzähle, dann fragen sie: „Ja, und was ist, wenn’s friert?“ (lacht) Das ist auch witzig, dann ist es ja kein Wasser mehr in dem Sinne, sondern Eis.
Kung-Fu ist genauso. Es ist auch Leichtigkeit, der Weg des geringsten Widerstandes – aber wenn es sein muss, durchbohrst du Granit. Und wenn es nicht sein muss, bist du sehr sanft. Alles sehr intuitiv und immer mit derselben Intention, einfach nur voranzugehen. Das Wasser sagt ja auch nicht irgendwann: „So, das war’s für heute!“ Oder wenn es einen großen Felsen vor sich sieht, fragt es ja auch nicht: „Oh mein Gott, was machen wir?“ Nein, es knallt drauf und geht dann den Weg, der für das Wasser am leichtesten ist. Es versucht nicht krampfhaft, den Felsen wegzuschieben, es sei denn, es passiert einfach von selbst – aber das ist nicht seine primäre Intention. Die Intention ist voranzukommen, egal welcher Widerstand auftaucht.
Lieber Taner, vielen Dank für das Interview!
Wer mehr über Taner Erdogan und Kung-Fu erfahren möchte oder gar Interesse an Unterricht hat, kann sich hier informieren: kungfuleonberg.de
Interview & Foto: Robin Schmitt