Ici, c’est Decathlon! Wir waren im Geburtsort des französischen Sportartikelherstellers und haben das BTWIN Village samt Designstudios und Produktionshalle besichtigt. Von BTWIN über Riverside und Rockrider bis hin zu VAN RYSEL werden in Lille spannende Neuheiten entwickelt. Das Steuer wird deutlich in Richtung Performance gedreht.
The French Dream – aus Lille in die Welt
Decathlon ist mittlerweile weit über Europas Grenzen hinaus bekannt. Wir haben uns die Frage gestellt: Was macht den französischen Sportartikelriesen so erfolgreich und welche Visionen hat die Marke? Dafür sind wir in den hohen Norden Frankreichs gereist und haben dort das BTWIN Village besucht. Das Hauptquartier Decathlons liegt in seinem Gründungsort Lille – einer hübschen, alten und geschichtsträchtigen Stadt mit etwa 235.000 Einwohnern. Vor knapp 50 Jahren, im Jahre 1975, wurde Decathlon mit dem Ziel gegründet, Sport für alle zugänglich zu machen und die Menschen zu einem gesunden und fitten Lebensstil zu inspirieren. Mittlerweile wird in mehr als 1.700 Stores in über 60 Ländern Ausrüstung für mehr als 100 Sportarten verkauft. Dazu zählen über 80 Stores in Deutschland. Aber auch in entlegenen Ländern, wie etwa dem Senegal, öffnet Decathlon Pop-up-Stores, um der Bevölkerung verschiedene Sportarten zugänglich zu machen.
Neben der Integration von Schwellenländern in sein Vertriebsnetz und der Schaffung von Arbeitsplätzen legt Decathlon großen Wert auf die Schulung der Mitarbeiter durch Weiterbildungs- und Umschulungsprogramme. Auch die Nachhaltigkeit in Produktion und Entwicklung nimmt einen immer größeren Stellenwert im Unternehmen ein. Um bis 2050 klimaneutral zu werden, setzt Decathlon auf eine enge Zusammenarbeit mit den Lieferanten, fördert aktiv die Kreislaufwirtschaft und betreibt seine Niederlassungen zunehmend mit nachhaltiger Energie. So auch die Produktionsstätten der Decathlon-Bikes, die bei über 3 Millionen verkauften Fahrrädern pro Jahr in Europa einen Großteil des Energiebedarfs des Konzerns ausmachen.
Das Dorf in der Stadt: BTWIN Village
Der Standort in Lille gleicht eher einer kleinen Stadt als einem klassischen Büro- oder Fabrikgebäude. Im Komplex einer ehemaligen Zigarettenfabrik finden sich neben den Designstudios, den Laboren und der Produktionshalle unter anderem ein Fitnessstudio, eine Bar, ein Spielparadies für Kinder, mehrere Restaurants und natürlich auch ein Decathlon-Store. Auf dem Außengelände und sogar im Inneren des Gebäudes werden Fahrradkurse für Kinder angeboten, dazu gibt es Möglichkeiten, um Padel- & Tischtennis zu spielen oder sich in der Skatehalle zu versuchen. Das BTWIN Village kommt ganz nach dem Vorbild eines generationenübergreifenden Ortes, an dem die klassische Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verworfen und die Philosophie von Teamgeist und Nachhaltigkeit verfolgt wird. Das kann man unter anderem daran sehen, dass viele Mitarbeiter mit dem Rad zum BTWIN Village kommen und gleich bis an den Schreibtisch rollen können – wortwörtlich.
Das BTWIN Village dient außer als Fahrradfabrik und Ort der Freizeitangebote hauptsächlich als Entwicklungs- und Designzentrum für Bikes und deren Komponenten. Wir konnten uns die verschiedenen Bereiche genauer ansehen und ein paar interessante Entwicklungen entdecken. Beispielsweise plant Decathlon einen GPS-Tracker gegen Fahrraddiebstahl – an sich nichts Neues, jedoch soll dieser Tracker als eine Art Totmannschalter funktionieren. Wird er also ausgebaut oder gewaltsam entfernt, lässt sich das Bike danach nicht mehr fahren. Außerdem haben die Ingenieure im BTWIN Village ein eigenes Motorkonzept entwickelt, das eine verbesserte Reichweite durch höhere Spannung erreichen soll.
Im Bereich der einzelnen Marken gibt es ebenfalls spannende neue Bikes und weitere Produkte. Dazu zählen etwa ein Long-John Cargo-Bike, welches das BTWIN Cargo R500E Longtail ergänzen soll, ein neues Race-Mountainbike für bis zu 6.000 €, mit dem das Decathlon Racing-Team dieses Jahr an den internationalen UCI-Rennen teilgenommen hat, sowie ein vollgefedertes Enduro-E-Mountainbike mit 170 mm Federweg. Bei der Road- und Gravel-Marke Van|Rysel, die erst seit 4 Jahren besteht und auf flämisch so viel wie “der aus Lille kommt” bedeutet, wurden neben Rennrädern nach dem UCI-Reglement auch Triathlonräder und Hometrainer entwickelt.
Die Entwicklung bei Decathlon
Bisher hat Decathlon auf günstige Bikes in hoher Stückzahl gesetzt, doch diese Philosophie bröckelt allmählich und der Fokus wird auf immer mehr Eigenentwicklungen und Mobilitätslösungen gelegt. Im BTWIN Village wird in einer Vielzahl an Testlaboren und Designstudios an neuen Bikes und Konzepten für die Fahrradbranche getüftelt, wobei sich der Bereich in fünf Teams unterteilt, um zielgruppenspezifisch zu entwickeln. Dabei wird in die Gruppen Rennrad, Mountainbike, Touring, City und Kids unterteilt, die vom hausinternen Innovation Hub mit immer neuen Ideen versorgt werden – etwa was neue Materialien und Herstellungsverfahren für Akkus, Griffe oder Sättel angeht.
Bei der Entwicklung neuer Fahrräder bilden eigene Ideen die Grundlage, die dann durch gesellschaftliche Entwicklungen und Bedürfnisse der Verbraucher ergänzt werden. Im Innovationsbereich werden in Eigenregie, aber auch in Kooperation mit unterschiedlichen Partnern, vollständige Bikes oder einzelne Komponenten entwickelt und getestet. Sobald eine neue Idee konkrete Formen annimmt, werden aus alten Bikes und Teilen anderer Produkte allererste Prototypen, sogenannte “Monster”, zusammengesetzt. Sie dienen als erste Visualisierung der neuen Produktideen und sollen dabei helfen, grobe Fehler direkt in der Planung auszumerzen. Im weiteren Designprozess und durch diverse Testdurchläufe in den Laboren wird das neue Bike immer konkreter. Bei dem Design für erste Prototypen setzt Decathlon auf ein 3D-Druckverfahren, um einfach und schnell neue Produkte hinsichtlich ihrer Form, Anbringungspunkte und Kompatibilität zu prüfen. Zum Abschluss des Designprozesses werden die Prototypen im Labor bis zur Endmontage gefertigt und geprüft. Darunter fallen verschiedene Verfahren wie etwa Vibrations-, Temperatur- und Gewichtstests sowie Sturzsimulationen.
Die gesamte Entwicklung ereignet sich bei Decathlon an einem Standort: Lille. Das spart Zeit und Wege, erleichtert den verschiedenen Teams die Kooperation und ist dazu auch nachhaltig. Ähnlich lokal wird die Produktion der Fahrräder gehandhabt: 90 % der Fahrräder, die Decathlon in Europa verkauft, werden auch in Europa hergestellt – ganz nach dem Motto: “local for the locals”. Neben den Faktoren auf Makroebene geht Decathlon ins Detail und findet dort intelligente und nachhaltige Lösungen. Beispielhaft dafür sind wiederverwendbare Klettstreifen, die beim Verpacken der Bikes anstelle von Kabelbindern verwendet werden, oder maßgeschneiderte Kartons, die den Standard-DHL-Maßen entsprechen. Nicht nur in der Produktion, sondern auch nach dem Verkauf denkt Decathlon das nachhaltige Konzept weiter: zum einen mit dem individuellen 3D-Drucken von Ersatzteilen, die nicht mehr auf Lager sind, zum anderen mit dem “Second vie”-Konzept, das dem Prinzip der Gebrauchtradmärkte inkl. Werkstatt in den Decathlon-Stores Einzug gewährt.
Qualität vs. Preis – Der Decathlon-Deal
Niedrige Preise bedeuten bei Decathlon nicht schlechte Qualität. Wir haben nachgefragt, wie Decathlon die niedrigen Preise seiner Bikes realisieren kann und dabei alle Standards und Normen einhält – und teilweise sogar übertrifft. Die Antwort ist erstmal ernüchternd unspezifisch: “Aus der Kombination verschiedener preissenkender Faktoren.” Markus Wirth, Commercial Director bei Decathlon Deutschland, erklärt es uns detaillierter. Der Designprozess der Bikes wird so lang wie nötig und so kurz wie möglich gehalten. Dabei wird weniger Wert auf das Gewicht, die Geometrie und die Ästhetik gelegt, sondern hauptsächlich eine preisbewusste Entwicklung ins Auge gefasst. Außerdem laufen die Modelle nicht jedes Jahr aus, sondern werden über mehrere Jahre angeboten. Die Ausstattung trägt selbstverständlich ebenso ihren Teil zum attraktiven Preis der Bikes bei, da vor allem bei den Einsteigermodellen auf eine kostengünstige Ausstattung gesetzt wird. Zusätzlich werden die Fahrräder in vergleichsweise sehr großer Stückzahl und mit einer hohen Fertigungstiefe produziert, das heißt, dass Decathlon viele Teile selbst entwickelt und herstellt.
Mit den neuen Modellen, die bei Decathlon in der Entwicklung sind und teilweise bereits präsentiert wurden, ändern sich die Vorgehensweise und auch die Preise ein wenig. Die Bereiche Design, Gewicht, Geometrie, Ästhetik und Ausstattung werden nicht mehr ausschließlich unter der Prämisse “schnell und billig” bewertet, sondern dienen vielmehr dem angedachten Einsatzzweck. Aus dieser Neupositionierung entstand das neue RCR-Modell aus Carbon, das für einen Preis von 4.799 € zu haben ist – immer noch vergleichsweise günstig, jedoch in gänzlich anderen Sphären, als die ursprünglichen Räder von Decathlon. Geht die Reise also in Richtung hohe Qualität zu attraktiven Preisen? Wir werden die Entwicklungen mit Spannung verfolgen und sehen, ob die Kundschaft diese neue Positionierung annimmt.
Ganz ehrlich: Vor unserem Besuch waren wir voreingenommen und unsere Erwartung an die Decathlon-Bikes glich derjenigen an das Wetter in Lille – mal okay, mal nicht so toll. Nach zwei ganzen Tagen vollen Programms mit ausführlicher Besichtigung des BTWIN Village und zahlreichen Testfahrten sind wir überzeugt: Die neuen Ansätze von Decathlon können funktionieren. Beim Preis-Leistungs-Verhältnis kann Decathlon weiterhin punkten. Gleichzeitig strebt der französische Sportartikelhersteller parallel eine neue Ära mit eigenen Entwicklungen und Erweiterungen der Produktpalette an.
Words: Gabriel Knapp Photos: Manne Schmitt