Perfekte Sommerabende muss man nicht in der Toskana suchen, manchmal liegt der ideale Spot dafür ganz nah: In unserem Fall in Rohracker, einen Katzensprung von unserer Homebase Stuttgart entfernt. Bei einer Weinprobe zwischen den Reben haben wir viel über Lebensentwürfe, Landliebe und Lastenräder gelernt. Und über das neueste In-Getränk – Cheers!
Ein Weingut in der Toskana oder in Frankreich, mitten im Languedoc-Roussillon – das ist der Lebenstraum von vielen – aber nur für ganz wenige erreichbar, meistens Schauspieler oder privilegierte Aussteiger. Der Gedanke ist so verlockend wie Klischee-behangen: Morgens bei Sonnenaufgang in Gummistiefel durch die Weinreben, abends mit Freunden bei Sonnenuntergang unter alten Bäumen den eigenen Wein verkosten. Ob Sting, Brangelina oder Joko Winterscheidt, irgendwie scheint es zum guten Ton oder zum Trend zu gehören, seinen eigenen Wein anzubauen. Aber während andere nur trinken und träumen, haben Karin, ihr Mann und einige gute Freunde beschlossen, ihren eigenen Wein anzubauen.
Stuttgart statt Toskana
Ein warmer Sommerabend: Wir machen uns von der Redaktion aus auf den Weg, um das Weinkollektiv Edenberg & Tal zu besuchen. Einmal quer durch Stuttgarts Feierabendverkehr, lotst uns das Navi schließlich auf einen steilen Weg hinunter Richtung Rohracker. Die Straße wird immer enger, keine zwei Autos kommen hier mehr aneinander vorbei. Es ist 19 Uhr und wir sind so nah an der Großstadt und gleichzeitig doch so weit weg. Es ist wie eine Zeitreise: Fachwerkhäuser, warmes Licht, versteckte Sitzecken, leuchtende Sonnenblumen in Abendstimmung. Aber auch neugierige Blicke – hier kennt jeder jeden und unsere Anwesenheit hat sich binnen Minuten via Dorffunk, in diesem Falle WhatsApp, herumgesprochen.
Wir sind mit Karin Nehls verabredet, Treffpunkt alter Wengert. Hier atmet alles 800 Jahre weinbauliche Geschichte: Schon immer haben Winzer an diesem Ort ihre Trauben abgeladen und zu Wein verarbeitet. Irgendwie wirkt alles aus der Zeit gefallen, aber das täuscht: Karin kommt uns schwungvoll auf ihrem Riese & Müller E-Lastenrad entgegen, in dem sie sonst ihre 3 Kids durch die Gegend kutschiert. Heute Abend ist das Bike voll beladen mit allem, was man für einen Abend mit Weinprobe im Weinberg braucht. Wir sind gespannt und während sie mit ihrem E-Lastenesel die Serpentinen durch den Weinberg nimmt, schickt sie uns auf einem alten verwunschenen Fußweg hinauf in die Weinberge. Auf den letzten Metern noch ein Aufstieg auf den alten Weinbergstaffeln, dann erwartet uns das Wengerthäusle mitten in den Reben. Gespannt packen wir das Lastenrad aus. Es erwarten uns gekühlte Weine, ein ganz spezieller Sommerdrink und kleine schwäbische Tapas – alles biologisch, natürlich und gesund. Schnell blenden wir den Arbeitstag aus, genießen Wein und Sonnenuntergang, philosophieren über Lastenräder, Weinreben und Freundschaft.
5 Freunde und der Wein
Am Anfang war ein alter Weinberg vom Schwiegervater. Weitere wurden gekauft und hinzu gepachtet. Die fünf Freunde, die sich auf dieses Abenteuer eingelassen haben und das Kollektiv gemeinsam betreiben, sind Dennis Keifer, Karin Nehls, Manuel Maile, Moritz Eitler und Nicolai Diettrich. Alle betreiben den Weinbau nebenher, als Hobby, und arbeiten weiterhin in ihren erlernten Berufen als Steuerberater, Grafik-Designer, Marketingmanager, Dachdecker und Entwicklungsingenieur. Lediglich Dennis hat eine Ausbildung zum Winzer absolviert. Was die Freunde – außer guter Wein natürlich – antreibt, sind inspirierende Verbindungen und Vernetzungen. Das können neue Leute sein oder alte Bekanntschaften. Irgendwie zieht hier alles aus vermeintlichen Gegensätzen neue Impulse und Ansätze: Berg und Tal, Jung und Alt, Stadt und Land, alles ist mühelos und scheinbar unangestrengt miteinander verwoben. Daraus entsteht nicht nur Wein, sondern auch ein Lebensentwurf. Die Freundschaft und das Miteinander stehen bei dem Weinkollektiv Edenberg & Tal im Vordergrund.
Einfach wachsen lassen
Über Weinanbau kann man ganze Bücher schreiben, Önologie ist eine komplexe Wissenschaft. Die Philosophie der fünf Freunde ist: so wenig wie möglich eingreifen. Das heißt zum Beispiel, dem Wein wird keine Hefe hinzugefügt, sondern es wird die natürliche Hefe, die sich auf den Trauben bildet, genutzt. Trockenmauern gehören zur Kulturlandschaft und die regenerative Bewirtschaftung der Steillagen zeigt, dass der Mensch auch positiv auf die Natur einwirken kann. Auf den Sonnenterrassen in den Weinbergen tummeln sich Insekten, Eidechsen und Vögel, über 170 Wildbienenarten und unzählige Schmetterlinge.
Aus diesem Grund will man bei Edenberg und Tal so wenig wie möglich in den natürlichen Kreislauf eingreifen: Der Boden wird nicht verdichtet, die Reben werden biologisch bewirtschaftet, der Wein wird nicht geklärt, sondern nur mechanisch gefiltert und ist somit auch vegan. Es wird viel experimentiert und die “klassischen” Winzer im Ort empfinden das junge Kollektiv als Bereicherung. Insgesamt werden 1,3 Hektar bewirtschaftet, Weiß- und Rotwein, aber auch ein Likörwein im Portweinstil, von dem jeweils nur 500 Flaschen rot und weiß pro Jahr aufgezogen werden. Diesen durften wir gerade vorhin direkt aus den Holzfässern im alten Keller verkosten! Inzwischen sitzen wir mitten im Weinberg, lassen uns von den letzten Sonnenstrahlen wärmen und während wir die Weine sozusagen an ihrem Entstehungsort verkosten, vergessen wir die Zeit. Es ist einer dieser bewussten Momente, in denen wir nicht vor etwas fliehen oder Neues suchen, sondern uns ganz bewusst den Dingen zuwenden, die da sind und sie annehmen. Das ist Zen im Alltag und bedeutet, die Unmittelbarkeit des Augenblicks anzunehmen und einfach zu leben: intuitiv und ohne viel zu wollen.
Neuer Wein auf alten Reben.
In unserer schnelllebigen und oft auch hektischen Welt lassen wir uns allzu gerne von den neuesten Trends mitreißen. Beim Weinanbau lernt man, die Zeit für sich arbeiten zu lassen. Wer neue Sorten anbauen möchte und neue Reben pflanzt, muss schon mal 3 Jahre bis zur ersten Ernte warten. Hier kann man tatsächlich abkürzen, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes auf die alte Generation zurückgreift. Beim sogenannten Chip-Budding setzt man junge Triebe der neuen gewünschten Traubensorte auf alte Weinstöcke. Bei dieser Umveredelung werden bei einer älteren Rebe die Triebe gekappt, dafür wird das Auge einer anderen Rebsorte eingesetzt. Klappt alles, dann kann man schon im nächsten Jahr wieder Trauben ernten. Mit dieser Technik kann die alte Anlage erhalten bleiben und das starke, oft metertiefe Wurzelwerk von der neuen Weinsorte genutzt werden. Ideal, wenn man auf neue, schimmelresistente oder klimatolerante Sorten umstellen möchte.
Home-Office
Der Wein ist Teil von Karins Leben geworden – neben Grafik, drei Kids und der Mit-Gründung eines Waldkindergartens wird auch das neue Wohnhaus der Familie darauf ausgerichtet. Folgt man Karin in ihr neues, noch im Umbau befindliches Haus, setzt sich die Idee, Neues auf Altem aufzubauen, konsequent fort. Das historische Haus von 1875 wird aktuell für die Familie – und natürlich auch für die Weinlagerung – umgebaut: Ein alter Weinkeller ist ebenfalls vorhanden und dieser bildet das Fundament des neuen Domizils. Klar, dass das neue, umgebaute Esszimmer später mal für Weinproben und Treffen rund um das Kollektiv genutzt werden soll. Von der Terrasse aus erreicht man über wilde, steile Gärten schnell die eigenen Weinberge. Home-Office in den eigenen 4 Wänden, ganz offline und am liebsten mit Menschen, die die eigene Leidenschaft für Wein teilen.
Das Rezept für den perfekten Sommerdrink haben wir von diesem Abend in Rohracker mitgenommen. Aber auch, dass Lebensentwürfe nicht immer alles neu erfinden müssen, sondern von den Wurzeln vergangener Generationen profitieren. Egal ob beim Wein, bei der Arbeit oder beim Biken: Es geht immer um das Glück im Hier und Jetzt. Und das haben wir an diesem Abend im Weinberg gespürt.
Words: Susanne Feddersen Photos: Robin Schmitt