Wieso enden Gespräche über gutes Essen immer in Diskussionen über die wirklich großen Fragen? Wir haben uns mit Restaurant-Manager Frederic Jung in Bad Tabarz getroffen, um über Fusion-Küche in der Provinz zu reden. Und hatten es letztendlich über Stadtflucht, alternative Lebensentwürfe und die Suche nach der richtigen Balance.

„In hippen Locations wie denen in Berlin kommt dir irgendwann das Kotzen, weil sich einfach jeder so hart pusht, um cool genug zu sein!“, sagt uns Freddy beim Treffen an einem sonnigen Mittwochmorgen. „Das ist immer anstrengend und man kann nicht einfach so sein, wie man eben ist. Man spielt lediglich die Rolle, die andere von einem erwarten.“ Frederic Jung aka Freddy macht da nicht mit, er hat im Anno 1700 seine eigene Rolle gefunden. Das Restaurant ist deshalb auch nicht in Berlin, sondern in Bad Tabarz, mitten in der thüringischen Provinz. Ein verschlafenes Idyll am Fuße des Rennsteigs, das sich in die saftig grünen Erhebungen des Thüringer Walds hineinschmiegt. Einer dieser Orte, dessen Struktur gefühlt schon seit Ewigkeiten Bestand hat: Kirche, daneben Briefkasten und Gasthaus. Selbst mit seinen zwei Kirchen ist der Kneippkurort alles andere als eine vibrierende (kulinarische) Metropole, sondern setzt weitestgehend auf erprobte Werte wie deftige Hausmannskost, viel Natur und Kulturangebote für die ganze Familie zwischen der Eisenacher Wartburg und dem Bauhaus in Weimar. Auf genau diesem grünen Fleck mitten in Deutschland entwickelt Freddy das Restaurant seiner Familie weiter – und will seinen Gästen ganz nebenher eine neue Grundeinstellung zur Gastronomie und zum Leben aufzeigen.

Du kommst wieder zurück in die Heimat und hast einfach Bock hier was zu drehen, was für die Region zu tun.

Heimatliebe und Orient

Rein optisch würde Freddy auch gut in diese hippen Locations in Berlin passen. Der 32-jährige mit Undercut und Musketierbart hat eine Vorliebe für ASICS-Sneaker und dreht sich gerade genüsslich eine Zigarette, als wir ihn nach seinem allmorgendlichen Blaubeersmoothie direkt vorm Restaurant treffen. Von außen sieht das liebevoll restaurierte dreistöckige Fachwerkhaus mit beigem Lehmgefach und roten Fenstern nicht gerade nach etwas aus, das Revolution schreit. Eher wie eines dieser lauschig-rustikalen Lokale mit Wohlfühlnamen wie Romantik-Schenke – und exakt so haben Freddys Eltern es in den 1990ern genannt. Trotzdem hatten schon sie es nicht so mit der traditionell gutbürgerlichen Küche, die diese Mauern aus dem 18. Jahrhundert erahnen lassen. Ihre Spezialitäten waren Seafood, Austern und frischer Hummer aus dem hauseigenen Becken. Für Freddy nicht nur aus ökologischen Gründen heute ein klares No-Go! Allgemein ist für ihn auch die klassische Sterneküche mit Gänsestopfleber und Kaviar, den man um den halben Globus fliegen muss, indiskutabel.

Wenn man gewisse Dinge persönlich ablehnt, dann verändert man damit logischerweise auch das, was man macht. In meinem Fall die Speisen auf der Karte und die Art, wie sie auf den Teller kommen.

Mit breitem Grinsen, tiefer Stimme und einem bayerisch angehauchten Dialekt bittet er uns herein und wir plaudern ein wenig. Für Freddy ging es nach der Kochausbildung in Erfurt – dem Hotspot gehobener Küche in Thüringen – nach Süddeutschland zur Bundeswehr. Einige Auslandseinsätze später fand er wieder zurück zu Topf und Pfanne und hat sich an der Grenze zu Österreich in Passau nicht nur den sprachlichen Einschlag, sondern in renommierten internationalen Küchen des Dreiländerecks auch seinen kulinarischen Input geholt.

Das Kochen und Arbeiten hier im Anno 1700 ist natürlich besonders. Mal eben 25 kg Gemüse für die Woche schnibbeln, Müll raus bringen … alles Chefsache, Diggi!

Die Corona-Zeit hat auch für ihn einen Umbruch bedeutet. Zurück in seiner Heimat Bad Tabarz hat Freddy das Restaurant-Management von seiner Mutter übernommen, ist nun neuer Chefkoch und holt die Kräuter für seine Speisen am liebsten aus dem Hochbeet direkt neben der Küche oder aus seinem Garten einige Meter hinter dem Anno. Allgemein bezieht er seine Rohstoffe weitestgehend aus der Region. Anstatt immer wieder die gleiche kulinarische Sau – beziehungsweise Thüringer Bratwurst – durchs Dorf zu treiben, kreiert er in einem gekonnten Mix heimischer Produkte Soul- und Fingerfood und fusioniert dabei arabische und französische Einflüsse zu saisonalen Kreationen. Da gibt es zum 200. Geburtstag des Hydrotherapeuten und Naturheilkundlers Sebastian Kneipp eine in Pastis gebeizte Lachsforelle aus der Region an Kopfsalat aus dem eigenen Garten mit Erbsen, Gurke und Dill-Vinaigrette und dazu ein Glas Riesling vom Thüringer Weingut Bad Sulza. Oder eine orientalische Bowl mit Wildkräuter-Hummus, fermentierter Roter Bete, Hanf-Möhren, Salzgurken und Fladenbrot. Upgraden lässt sich das mit hausgemachten Falafeln an Brunnenkresse oder gezupftem Lammfleisch aus der Weidezucht des Nachbarorts. Und zum Nachtisch? Schafmilchjoghurt mit gerösteten Aprikosen, Zitrus, Butter-Crumble und Pistazie.

Die Mottos seiner Speisekarten reichen von „Heimatliebe & Orient“ über „Barbeque, Hanf & Bier“ bis „Kraft der Natur“. Neben den drei möglichen Hauptgerichten finden sich zwei Vorspeisen und zwei Dessert-Angebote. Für Freddy ist eine so überschaubare Karte nicht nur der perfekte Weg, um höchste Qualität zu garantieren, sondern auch um eine gesunde Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu finden. Denn wenn er nicht gerade auf seinem Gravel-Bike sitzt, schraubt der Hobby-Gitarrist auch gerne an motorisierten Zweirädern. Zwischen feinstem Stoner-Rock (seine 5 Top-Songs findet ihr hier) und Zweitakt-Öl findet sich also sein neuestes Projekt: eine Simson S50 in knalligem Rot, mit 50 ccm und Anhänger. Das große Geld? Ist für den Bad Tabarzer längst nicht alles. Er will seine Zeit mit sinnstiftenden Dingen verbringen – spricht’s und führt uns im Anno herum, das mit charmant knarzenden Dielen und einer großen Portion Gemütlichkeit punktet. Ein Ort zum Wohlfühlen, an dem man gerne einen ganzen Abend durch quatscht, in guter Gesellschaft, mit gutem Essen und gutem Wein.

Ich würde nie ein Essen rausgeben, das ich nicht selbst gerne essen würde!

Liebe geht durch den Magen, Gemeinschaft irgendwie auch

Unsere Tour endet im Herzen des Restaurants und in Freddys Schaffensbereich, seiner Küche. Ganz so lange können wir das Blitzen der Edelstahlarmaturen, Küchenmesser und frisch eingelegten Radieschen aber gar nicht bewundern, denn für den Abend hat sich eine geschlossene Gesellschaft mit 15 Leuten angemeldet. Parallel will das À-la-carte-Geschäft vorbereitet werden und es fehlen noch einige Zutaten. Eingekauft wird im Anno 1700 möglichst regional, die Produkte kommen immer häufiger vom eigenen Feld und die Kooperation mit dem Bodelschwingh-Hof Mechterstädt e.V. vereint für Freddy Gemeinwohl, Nachhaltigkeit und Regionalität. Gemeinsam brechen wir dorthin auf, um Kräuter, Salat und Fenchel zu kaufen. Die Simson knattert los und Freddys Hemd flattert passend dazu lässig im Wind, als er sich seine Ray Ban-Sonnenbrille zurechtrückt. So richtig kann man es sich nicht vorstellen, dass sich dieser lässige Dude zwischen Gasherd und Kartoffelfeld zu Hause fühlt. Als wir ihn auf Letzteres ansprechen, schwärmt er stolz von den Ländereien seiner Familie. Von dort bezieht er bereits jetzt Kartoffeln, Salate, Möhren, Kohlrabi, Erdbeeren und auch die eigenen Hühner liefern regelmäßig frische Bio-Eier. „Im Grunde sind das ja meine Kolleginnen“, scherzt Freddy. Nachhaltigkeit ist für ihn eine Selbstverständlichkeit und hat seiner Meinung nach mit ganz viel gesundem Menschenverstand zu tun. Mit glitzernden Augen resümiert er: „Da hat das Land der Stadt dann schon manches voraus. Wenn die hippe Kneipe in Kreuzberg einem von lokalen Salatpflanzen für 5 € erzählt, dann schlagen sich die Leute auf dem Land die Hände an die Stirn!“

Der Anhänger humpelt hinter dem knallroten Moped von links nach rechts und wir quetschen uns zusammen auf die kleine Sitzbank, während Freddy schreiend erklärt, dass aus seiner Sicht das Kochen mit regionalen Rohstoffen auf dem Land und – nicht zuletzt durch den Sozialismus – gerade auch in Ostdeutschland tief verwurzelt ist. Als seine Eltern nach dem Fall der Mauer mit exotischen Meeresfrüchten um die Gunst der Gäste warben, kannte die Begeisterung keine Grenzen, denn das war etwas völlig anderes und Neues. Das Flair der großen weiten Welt im kleinen Bad Tabarz. Heute weiß Freddy seine Gäste erneut durch die Regionalität abzuholen. Wo der Apfelsaft aus Gierstädt bei den älteren Gästen Erinnerungen weckt, weiß Gemüse vom eigenen Feld viele jüngere zu überzeugen. Urban Gardening macht als Megatrend Schule und gleichzeitig blühen auf dem Land nach wie vor die Schrebergärten und locken längst nicht nur Menschen wie Freddy zurück aufs Land.

Ist es nicht wirklich paradox, dass jemand aus der Stadt nach seiner Reise durch die Welt wieder zurück in seinen Heimatort kommt, um mit heimischen Produkten die Liebe fürs Regionale neu zu entfachen? Wir behalten diese Frage im Kopf, während wir mit Freddy durch die liebevoll-penibel angelegten Gewächshäuser und über die Felder des Bodelschwingh-Hofs streifen. Wir holen, was wir brauchen, und machen uns auf den Heimweg, um uns bei einem Mittagssnack die Sonne auf den Kopf scheinen zu lassen.

Kulinarisches Maßnahmenpaket – Wie gestaltet man die Zukunft in alten Wänden?

„Freddy, was essen wir hier gerade?“ Wir prosten uns zu und genießen seine neuesten fermentierten Gemüse-Kreationen, frisches Taboulé, herzhaftes Baba-Ghanoush, Falafeln und knusprige Sigara Böregi. Letztere hat Freddy auf seiner neuesten Speisekarte eingedeutscht: Als „Zigarren“ ist das Gericht ihm zufolge irgendwie zugänglicher, weckt das Interesse seiner Gäste und regt zum Dialog an. Insgesamt will Freddy bei der Zusammenstellung seiner Karten alle potenziellen Gäste mitnehmen: Wenn Opa Otto oder Oma Annegret aus dem Dorf unter den vermeintlich exotischen Gerichten nichts finden, hat er das Rindergulasch mit grünen Bohnen und Thüringer Klößen als Exit-Strategie im Petto. Selbst Thüringer Blechkuchen steht nachmittags eigentlich immer auf dem Programm. Auch das ist moderne Fusionsküche!

Du musst was für die Enkel, aber auch was für den Opa dabei haben!

„Hey, wir machen hier Wirtshausküche und dann gleichzeitig Zigarren-Börek mit dreierlei Möhren, fancy veganen Dips und Kräuter-Kur“, erzählt Freddy. „Jeder Michelin-Tester würde sagen: Leute, was ist das denn für ein Stil!? Mann, genau das ist der Stil. Das ist der Ritt auf Messers Schneide. Harte Kontraste!“ Gerade beim Essen scheuen viele vor Experimenten zurück – auch deshalb, weil sie schon (zu) oft beim Experimentieren enttäuscht wurden. Hier wirft Freddy seine ganze Handwerkskunst und Liebe zu den Produkten in die Waagschale. Er will auf dem Teller überzeugen. Und gerade auf dem Land sprechen sich die guten Dinge auch schnell herum, selbst wenn sie für einige anfangs unkonventionell daherkommen.

Apropos unkonventionell: Nicht nur der Zeitpunkt für Freddys persönliche Stadtflucht und die Rückkehr ins Familien-Restaurant war inmitten einer globalen Pandemie ungewöhnlich. Noch im ersten Lockdown hat Freddy sich das Ziel in den Kopf gesetzt, mittelfristig Kulturangebote im Ort zu schaffen und sie natürlich mit Essen zu verbinden. Ein paar coole Bands, gute Küche, was zu trinken – ein Komplettpaket für schöne Erinnerungen eben. Im Sommer 2020 sind so viele Gäste wie nie zuvor aus angrenzenden Städten wie Eisenach, Erfurt, Weimar oder Jena geflüchtet und haben das Angebot im Anno 1700 dankbar angenommen. Insgesamt erfreut sich die Region rund um Bad Tabarz der Zuwanderung aus dem städtischen Raum. Für Menschen wie Freddy, die ihren eigenen Passionen Raum geben wollen, oft eine logische Konsequenz. Wo Wohnraum bezahlbar und die Landschaft weit ist, fehlt es gelegentlich nur an Leuten mit weiten Horizonten.

Bad Tabarz ist nicht die große Welt, aber auch in einem 4.000-Seelen-Dorf kann man einen Unterschied machen. Und genau darauf hat Freddy richtig Bock, auch wenn die Infrastruktur natürlich ihre Tücken birgt. Er bringt es mit der ihm eigenen abgeklärten Art auf den Punkt: „Hier sind die Menschen real und sie fragen sich nicht die ganze Zeit, ob sie diesem oder jenen Lebensentwurf entsprechen. Das und die Nähe zur Natur weiß ich für mich persönlich sehr zu schätzen. Noch gibt es hier leider brutal wenige gute Restaurants, die sich darum kümmern, die Gastronomie für die junge Generation attraktiv zu gestalten, aber das ändern wir jetzt. Das ist mein Weg.“

Nach einem Tag mit Freddy im Anno 1700 merken wir, dass unser Gespräch über Essen und Kulinarik immer wieder in ganz andere Bereiche abgedriftet ist. Wir haben uns über Stadtflucht, Nachhaltigkeit und Selbstfindung unterhalten und am Ende festgestellt, dass der hippe großstädtische Lebensentwurf vor allem in uns selbst stattfindet. Da kann es schon mal vorkommen, dass man seine Bestimmung so wie Freddy mitten in der Provinz findet. Die persönliche Downtown kann eben immer dort sein, wo man gerade ist.

Words: Benjamin Topf, Susanne Feddersen Photos: Benjamin Topf