Liebe auf den ersten Blick? Die RGNT No.1 könnte mit ihrem sexy Café-Racer-Look den 1960ern entsprungen sein. Doch das Elektromotorrad will mehr als nur gut aussehen und punktet mit einem ganz neuen Fahrgefühl. Wir haben die RGNT No.1 nicht nur für euch getestet, sondern auch herausgefunden, welche Vor- und Nachteile ein Elektromotorrad mit sich bringt.

Beim Modellnamen No.1 schwingt schon ein Hauch Pioniergeist mit. Obwohl es bereits zahlreiche Motorräder mit Elektroantrieb auf dem Markt gibt, sticht die RGNT No.1 durch ihre Optik besonders heraus. Das Zweirad ist zwar erst seit Anfang 2020 auf dem Markt, doch die No.1 avanciert jetzt schon zum Kultmobil unter den Stromern und kann sich nahtlos zwischen den legendären Café-Racern aus den 1960ern einreihen. Doch das schwedische Start-Up will mehr als nur schicke Optik, es will die Straße zum Schweigen bringen, die Motorradwelt revolutionieren und zum Marktführer in diesem Segment aufsteigen. Die Ziele sind also hoch gesteckt! Aktuell hat der Newcomer zwei Modelle im Portfolio: die RGNT No.1 Classic und die No.1 Scrambler. Wie der Name schon verrät, kommt die Classic-Variante in einem klassischen Look und ist für die Straße ausgelegt. Die Scrambler-Version setzt auf einen sportlicheren Style, mit ihr soll man auch leichtes Gelände wie Schotterstraßen unter die Stollen nehmen können. Wir hatten die Gelegenheit, die RGNT No.1 Scrambler in der Sport Extended-Variante, die bei 15.495 € startet, ausgiebig zu fahren und zu erfahren.

Is silent speeding the future? – Die Vor- und Nachteile von Elektromotorrädern

Sonntagmorgen. Bestes Kaiserwetter. Ihr schwingt euch hinter den Lenker. Statt 15 l Sprit habt ihr nur die 9,5 Wh große Batterie zwischen den Beinen, der Nachbar grüßt euch freundlich, statt die Faust in die Luft zu strecken. Mit dem lautlosen Elektroantrieb des Motorrads könnt ihr die Fahrt genießen, ohne jemand anderes zu stören oder verärgerte Blicke zu ernten. Auch über lärmbegrenzte Pässe müsst ihr euch keine Sorgen machen – einfach Gas geben und die Natur genießen. In der City könnt ihr entspannt cruisen und euch durch den Wegfall von Kupplungshebel und Getriebe voll und ganz auf den Verkehr konzentrieren. Kommt ihr im zähfließenden Berufsverkehr doch mal zum Stehen, sitzt ihr nicht mehr auf einem 90° C heißen Motorblock und geratet höchstens über die Frage, welche Spur die schnellere ist, ins Schwitzen.

Natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt – der Elektroantrieb bringt nicht nur Vorteile mit sich. Das Elektromotorrad kann bei sommerlicher Hitze durchaus überhitzen, ab 30 Grad Außentemperatur drosselt die Software die Leistung des Motors, sobald eine Überhitzung durch Maximal- oder Dauerbelastung der Elektronik droht. Und Motorradfahren war schon immer nicht ganz ungefährlich. Die Kombination aus oftmals hohen Geschwindigkeiten und der kleineren Silhouette im Vergleich zu Autos führt dazu, dass man schneller übersehen wird. Nun wird man mit dem lautlosen Elektroantrieb nicht nur schlecht gesehen, sondern auch nicht mehr gehört. Selbst Rennradfahrer nehmen einen nicht wahr und werden erst aufgeschreckt, wenn man schon auf gleicher Höhe rollt. Hier würde ein optionales Sound-Modul Sinn ergeben, um auch in der Stadt Fußgänger und Radfahrer zu warnen.
Der Elektroantrieb am Motorrad scheidet die Geister: Viele Menschen finden das E-Motorrad geil, für manche ist es ein Frevel. Fakt ist, das Elektromotorrad eröffnet neue Möglichkeiten und Sichtweisen.

Vergangenheit trifft auf Zukunft – Das Design des RGNT No.1 Scrambler SE-Elektromotorrads

Die RGNT No.1 katapultiert uns in die legendären 1950er- und 1960er-Jahre, als noch riesige Straßenkreuzer mit verchromten Kühlergrill-Figuren und Café-Racer die Straßen dominierten und aus den Lautsprechern der Bars Rock ‘n’ Roll tönte. Das Design-Team von RGNT hat es bei der No.1 geschafft, den Retro-Look eines Café-Racers in die Moderne zu transportieren. Geschwungene Linien und klassische Elemente prägen das Erscheinungsbild. Schöne Speichenräder, verchromte Schutzbleche, flache Ledersitzbank – check! Tank und darunter der Motor ist auch da, oder? Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass sich im schwarzen Kasten unter dem Tank kein V8 verbirgt, sondern die Akkus mit 9,5 kWh und im Tank die Steuerungs- und Ladeelektronik.

Klassische Elemente wie Speichenräder, verchromte Schutzbleche oder die Ledersitzbank verleihen der RGNT No.1 einen schicken Look.
Hinter der schwarzen Abdeckung verbirgt sich nicht der Motor, sondern der Akku und die ganze Steuerungselektronik.

Unter der Ledersitzbank befindet sich noch ein kleines abschließbares Staufach, das ist aber gerade so groß genug für einen kleinen Snack oder den Führerschein und die Ladekarte. Optisch kann das Bike im Konfigurator in Sachen Tankfarbe, Sitzbank und Schutzbleche auf eigene Vorlieben angepasst werden. Gegen Aufpreis versteht sich – unser Testbike schlägt mit 17.221 € zu Buche. Die Basisversion der No.1 Scrambler SE startet bei 15.495 € und ist komplett in Schwarz gehalten. Preislich macht es also kaum einen Unterschied, ob man zum Verbrenner oder zum Elektromotorrad greift – Pioniergeist hat seinen Preis.

Reichweite und Ladegeschwindigkeit des RGNT No.1 Elektromotorrads

Früher, beim herkömmlichen Verbrenner, war das Tanken eher nebensächlich. Doch nun bekommt das Laden beim Motorrad mit Elektroantrieb plötzlich mehr Bedeutung. Die reale Reichweite mit einer Akkuladung liegt je nach Topographie, Fahrweise und Fahrergewicht bei rund 150 km. Die große Alpentour ohne Zwischenstopp müsst ihr mit der RGNT No.1 also begraben. Stattdessen bieten sich kürzere 1-Tagesetappen an, bei denen man die Region besser kennenlernen kann. Für den Weg zur Arbeit mit anschließender Spritztour langt die Reichweite allemal.

Der Akku hat eine Kapazität von 9,5 kWh. Das ist die etwa 13-fache Kapazität eines E-Bike-Akkus. In 3 Stunden kann man das Elektromotorrad über einen Typ-2-Stecker wieder voll aufladen. Der Haken: Die meisten 11- und 22-kW-Ladesäulen haben kein festes Kabel, sodass man dieses selbst mitbringen muss. Die RGNT No.1 bietet dafür leider kein Staufach, sodass man es im Rucksack verstauen oder sich wie Lucky Luke als Lasso über die Schulter hängen muss. Alternativ kann man die No.1 auch daheim oder unterwegs an einer herkömmlichen Haushaltssteckdose laden, aber nur wenn man einen einfachen Zugriff auf die Steckdose oder ein langes Kabel hat, denn der 60 kg schwere Akku ist fest verbaut und lässt sich nicht entnehmen. Dann dauert es rund 6,5 Stunden für eine komplette Füllung, von 20–80% sind 3,5 Stunden bis zur Weiterfahrt einzuplanen.

Rund 6,5 Stunden muss man sich für eine ganze Füllung und 3,5 Stunden für eine Ladung von 20 auf 80% gedulden.
Angezapft wird wie beim Verbrenner über den Tankstutzen. In diesem Fall fließt kein Benzin, sondern elektrische Energie in den Stromspeicher.

Probleme von geringerer Reichweite an kalten Tagen wie bei E-Autos werden nur hartgesottene Fahrer haben, die sich auch bei eisiger Kälte hinter den Lenker waagen. Bei längerer Standzeit im Winter sollte man darauf achten, die Batterie mindestens einmal alle 25 Tage aufzuladen, um sie zu schonen und Schäden durch Tiefentladung vorzubeugen.

Ab auf die Straße – das RGNT No.1 Scrambler-Elektromotorrad im Test

Die RGNT No.1 Scrambler zieht die Blicke auf sich, keine Frage. Doch im Gegensatz zu früher erntet man heute keine bösen Gesten, wenn man mit seiner Elektro-Gang um die Ecke flüstert, sondern eher interessierte oder gar verwunderte Blicke. Das typische Rowdy-Image von Motorradfahrern begegnet einem auf der leise surrenden RGNT eigentlich nie. Doch schafft es das Bike auch zu überzeugen, wenn man sich selbst hinter den Lenker schwingt? Klar kann die No.1 nicht mit einem 150 PS starken Rennboliden mithalten, doch die 11 kW, oder maximal 21 kW im limitierten Boost-Modus – was sich im ersten Moment nach nicht viel Power anhören mag – sorgen für ordentlich Fahrspaß. Damit fällt sie unter die Fahrzeugklasse L3e und kann somit mit der Führerscheinklasse A1 gefahren werden. Durch das direkte Ansprechverhalten des Nabenmotors lässt die 163 kg schwere RGNT No.1 auch gerne mal den ein oder anderen Verbrenner an der Ampel stehen.

Der Nabenmotor sitzt im Hinterrad und bringt im Normalbetrieb 11 kW und im Boost-Modus maximal 21 kW Leistung.
Durch das direkte Ansprechverhalten hängt die RGNT No.1 vor allem bei niedrigen Geschwindigkeiten gut am Gas.

Die Bedienung ist dank des One Throttle Drive sehr einfach. Die Kupplung, die man von einem herkömmlichen Motorrad kennt, fällt weg: einfach den Gashebel drehen, um zu fahren – easy. So lässt es sich entspannt durch die City cruisen, ohne sich Gedanken über die Gangwahl machen zu müssen. Dreht man den Griff zurück, also in Fahrtrichtung, beginnt die Maschine zu rekuperieren. Gerade auf der Landstraße in langgezogenen Kurven kann man hier noch etwas feiner die Geschwindigkeit reduzieren, falls man sich ein bisschen im Speed verschätzt hat. Will man stärker in die Eisen gehen, kann man auch auf das normale Bremssystem zurückgreifen. Auch das unterscheidet sich von den meisten herkömmlichen Motorrädern. Die RGNT No.1 setzt nämlich auf ein kombiniertes Bremssystem: Durch Ziehen des linken Bremshebels werden sowohl die Vorder- als auch die Hinterradbremse betätigt. Mit dem rechten Bremshebel kann zusätzliche Kraft auf die vordere Bremse ausgeübt werden, um eine noch direktere Bremswirkung zu erzielen. Umgekehrt lässt sich aber gut isoliert mit der Vorderradbremse vor Kurven anbremsen, wenn man weiß, was man tut – sonst ist der linke Bremshebel die sicherere Wahl. Gerade auf den ersten Metern ist die andere Art der Bremsbetätigung noch etwas gewöhnungsbedürftig, man kommt aber schnell damit klar.

Das kombinierte Bremssystem verteilt die Kraft auf Vorder- und Hinterradbremse.
Mit dem Gasgriff kann man anstatt leicht zu bremsen auch rekuperieren – cool!

Lässt man es zu sportlich angehen, kommt das Fahrwerk an seine Grenzen. Einzelne frontale Schläge steckt es noch weg, bei multidirektionalen Schlägen, z. B. bei Schlaglöchern in einer Kurve, ist die Gabel aber überfordert. Im Stadtverkehr lässt es sich durch das agile Handling bei niedrigen Geschwindigkeiten noch leicht durch Gassen und engere Kurven schlängeln. Erst ab ca. 60 km/h ist die hohe rotierende Masse am Hinterbau durch den Nabenmotor deutlich spürbar und man muss das Motorrad aktiv in Kurven reindrücken und mit viel Nachdruck fahren. Lässt man es auf der Autobahn krachen, liegt die Maximalgeschwindigkeit bei 120 km/h, doch ans Limit kommt die Maschine schon ab 110 km/h. Hier fängt die RGNT No.1 an, unruhig zu werden, weil der Lenkwinkel zu flach ist und die Gabel eine schlechte Dämpfung hat.

Als Ergänzung zu den Fahrmodi Normal und Dynamic hat RGNT den Boost-Modus eingeführt, der durch einen Joystick am Gasgriff aktiviert werden kann und eine Spitzenleistung von 21 kW bietet. Allerdings ist dieser Modus begrenzt und wird je nach Akkuladung und Temperatur unterschiedlich lang freigeschaltet – bei Vollgas-Eskapaden reicht der erhöhte Schub ca. 30 Sekunden und muss sich dann wieder aufladen, ab 60% Ladezustand ist dann ganz Schluss mit Boosten. Der gewählte Fahrmodus wird über ein großes Touch-Display angezeigt, das wie bei den meisten modernen Motorrädern vorne vor dem Lenker angebracht ist. Selbst bei Sonneneinstrahlung spiegelt es nicht und ist gut ablesbar. Das Display zeigt die wichtigsten Informationen wie Geschwindigkeit und Reichweite an. Über die RGNT-App können Routen bequem auf dem Sofa geplant werden, über das Display werden dann die Navigationshinweise während der Fahrt angezeigt. Während unseres Tests lief die Software nicht ganz sauber und wir mussten das System mehrmals neu starten. Wenn man Pech hat, strandet man im Wald oder am Straßenrand und kommt nicht weiter. Zum Glück ist die Software update-fähig, und damit sollten die Probleme in Zukunft hoffentlich behoben werden.

Die RGNT No.1 ist trotz ihrer kleinen Schwächen eine super-coole und solide Option für hippe Städter, die sich auf schöne und komfortable Art und Weise in der City fortbewegen oder Ausflüge ins Umland unternehmen wollen.

Fazit

Elektromotorräder haben großes Potenzial. Die RGNT No.1 macht nicht nur Spaß, sondern sorgt durch ihren coolen Retro-Look auch für interessierte Blicke. Die Software und das günstige Fahrwerk lassen noch Wünsche offen, das Handling bei hohen Geschwindigkeiten ebenso. Aber zum Cruisen und Pendeln mit Style ist es perfekt. Der Startpreis von 15.495 € ist happig. Aber das ist nunmal der Preis der Pioniere – denn die RGNT No.1 eröffnet zweifelsohne einige neue Möglichkeiten.

Tops

  • cooler Retro-Look
  • einfache Bedienung

Flops

  • günstiges Fahrwerk
  • hoher Preis
  • Software noch nicht ausgereift

Mehr Infos unter rgnt-motorcycles.com

Words: Mike Hunger Photos: Robin Schmitt