Riese & Müller gilt als eine der angesagtesten (sub-)urbanen E-Bike-Marken und ist in Sachen Funktionalität, Design und Nachhaltigkeit für viele in der Bike-Branche ein Vorbild. Wir haben uns mit Geschäftsführerin Sandra Wolf am Firmensitz in Mühltal bei Darmstadt getroffen, um über wichtige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen, Autos, Fachhandel und das Voranbringen der Bike-Branche zu sprechen.

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Liebe Sandra, bevor wir mit dem Interview beginnen – kannst du dich kurz vorstellen? Wie kamst du zu Riese & Müller und was begeistert dich an deiner Arbeit?

Sandra
Ich habe klassisch BWL studiert und mich nach meiner Promotion mit Familien-Unternehmen und deren Kultur beschäftigt. Vor rund 20 Jahren bin ich in die Fahrradbranche hineingerutscht und seit 2013 im Unternehmen Riese & Müller. Mir ging es schon immer um übergreifende, langfristige Themen. Ich habe davor in der Markenstrategie-Beratung und Markenentwicklung gearbeitet, viele Jahre auch als Selbstständige. Mein Ziel ist immer, die Werte eines Unternehmens zu kommunizieren und Möglichkeiten zu gestalten. In vielen Unternehmen wird oft noch eine künstliche Kultur aufgebaut, wie ich in meiner beruflichen Laufbahn erfahren konnte. Mir ist wichtig, herauszufinden, welches die reellen Werte sind, und diese dann nach außen zu tragen.

Bei Riese & Müller ist die authentische Unternehmenskultur ein ganz wichtiger Part. Wir haben eine tolle Symbiose aus drei Geschäftsführern – Markus Riese hatte mich hier neben sich und Heiko Müller in die Geschäftsführung berufen. Jeder kann seinen Teil bei Riese & Müller beitragen und selbstbestimmt arbeiten. Markus und Heiko haben das schon immer so gelebt und dass dies funktioniert, sieht man auch daran, dass sie nach fast 30 Jahren als Freunde und Gründer noch immer aktiv zusammenarbeiten.

Ich selbst bin begeisterte Radfahrerin, vor allem im Lastenradfahren steckt mein Herzblut. Ich muss jetzt schon nachdenken, wann ich das Auto das letzte Mal bewegt habe … das war vor 13 Wochen. Außer zu Außendienst-Terminen und bei Distanzen über 25 km nutze ich das Auto im Alltag nicht.

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Riese & Müller hat sich seit Jahrzehnten aus der Garage heraus zu einem der angesagtesten Unternehmen der Bike-Branche entwickelt. Gerade in den letzten Jahren hat sich das Bild nochmals stark gewandelt. Was war dabei euer Rezept?

Sandra
Riese & Müller hat ein extrem gutes Fundament: das Ingenieursprodukt. Das heißt, die Funktion steht an erster Stelle. Klar, Design ist toll! Ich bin ein großer Produktdesign-Fan – aber nur als Fortführung eines gut funktionierenden und sinnvoll gestalteten Produkts. Es geht ja darum, auf die Bedürfnisse des Fahrers einzugehen und dies in Funktion und Gesamtkonzept umzusetzen. Das hat Riese & Müller von Anfang an gut gemacht und beibehalten.

Viele Jahre waren die Bikes ein reines Ingenieursprodukt – es ist offensichtlich gewesen, dass die Firma nicht von zwei Produkt-Designern geführt wurde. Mit den Jahren haben wir realisiert, dass auch Produktdesign einfließen muss. Denn nur in der Kommunikation bzw. der Kombination von Funktion und Design hast du ein Produkt, was die Leute wirklich fahren wollen und eine Massenbewegung auslöst. Es ist wie bei Schuhen: Sie sollen bequem sein, aber auch der Look muss stimmen. Design ist Ausdruck von Marke, die kommuniziert werden will. Warum macht die Firma das so? Warum passt das Produkt zur Zielgruppe? Riese & Müller lebt von der Geschichte. Auf jedem Produkt steht der Name von Markus und Heiko drauf, und sie haben gute Geschichten zu erzählen – angefangen von der Gründung in der Garage, bis über die lange Zeit hinweg, die die beiden Tag für Tag produktiv zusammenarbeiten. Die Kombination aus Funktion, Produktdesign und dem täglichen Input, den sie selbst mit einbringen – so etwas steckt in einem Produkt und macht eine Marke aus.

Ich für meinen Teil habe dabei versucht, stärker in den Vordergrund zu stellen, worum es in der Firma geht. Nichts Neues ausdenken, sondern das herauszufinden, was Menschen mögen: Ingenieursgeschichte kombiniert mit Design. Und eben nichts von der Stange.

Unsere Stärke: Ingenieursgeschichte kombiniert mit Design, nichts von der Stange.

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Nachhaltigkeit ist bei euch ein großes Unternehmensziel, wie seid ihr das Thema angegangen?

Sandra

Markus und Heiko sind seit Gründung des Unternehmens sparsam mit Ressourcen umgegangen. Beim Neubau vor einigen Jahren kam der Nachhaltigkeitsgedanke neu auf: Uns war klar, dass wir nicht wachsen können und dabei einfach alles Mögliche an Ressourcen verbrauchen. Das passt weder zu unserem Firmenleitziel noch zum Thema Fahrrad. Wir sind größer geworden und wollten weg von der Autobahn, hinaus ins Grüne. Und dem Produkt mehr Raum geben für das, was das Fahrrad per se schon ist – ein umweltfreundliches Thema. Diesen Umweltaspekt haben wir auch beim Neubau stärker eingebracht, zum Beispiel durch eine Photovoltaikanlage, die die Energieversorgung abdeckt, oder durch Müllvermeidung und Einsparung von Materialien. Und selbst wenn es an manchen Tagen mal etwas wärmer wird, ist eine Klimaanlage kein Thema für uns. Nachhaltigkeit gewinnt einfach zunehmend an Bedeutung, wir können das in die Fahrradbranche hineinbringen und aktiv werden. Angefangen von der Idee, das Fahrrad im Alltag als Autoersatz zu nutzen, bis zum nachhaltig produzierten Produkt als solches. Für diesen Mehrwert wollen wir als mittelgroßes, fast schon großes Unternehmen unseren Beitrag leisten und als positives Beispiel vorangehen. So können wir auch die Branche beeinflussen, um nachhaltigere und bessere Standards in einzelnen Unternehmen zu schaffen. Das ist Teil unserer Zukunftsstrategie.

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Alternative Mobilität ist ein riesiges Thema. Überall wird die Elektromobilität gefördert. Welche Veränderungen konntest du in der letzten Zeit feststellen?

Sandra

Gerade die letzten Wochen haben gezeigt, dass eine neue Dynamik entsteht, wenn weitere Faktoren dazukommen. Das Virusgeschehen hat uns hier tatsächlich etwas in die Karten gespielt, auch wenn die Umstände an sich beispiellos sind. Aber es gibt Entwicklungen, die vorher nicht denkbar oder möglich gewesen sind. Hat die Planung und der Bau eines Radwegs sonst ewig gedauert, werden in zahlreichen europäischen Metropolen Straßen und Wege fürs Fahrrad umfunktioniert. Man sieht auch immer mehr Menschen sich vom Auto verabschieden. Emotionen, die man vorher zum Auto hatte, werden jetzt auch auf das Rad projiziert. Mittlerweile haben viele erkannt, dass ein Rad ein tolles Produkt ist.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für mutige Entscheidungen aus vielen Richtungen, das Auto kann in Innenstädten weniger Wichtigkeit bekommen, wenn das Rad verstärkt genutzt wird.

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Welche Wege geht ihr bei Riese & Müller, um ein Umdenken in Sachen urbaner Mobilität voranzutreiben? Siehst du das Bike dem Automobil den Rang ablaufen?

Sandra

Wir setzen uns stark dafür ein, neue Wege der Mobilität voranzutreiben. Das fängt schon bei Überlegungen zur Produktentwicklung an. Was braucht man, um bestimmte Strecken mit dem Rad so gut fahren zu können, dass es mit dem Auto nicht besser ist? Die Produktentwicklung muss so angesetzt sein, dass sich die Nutzer fragen, warum sie die ganze Zeit mit dem Auto gefahren sind. Die Zeiten ändern sich. Es zeigt sich inzwischen auch eine stärkere Bereitschaft, einen Helm zu tragen. Für eine wachsende Gruppe hat das Auto an Bedeutung verloren. Sie ist nicht bereit, bei der eigenen Wohnung, Urlaub oder Freizeit zu sparen und dem Auto beim Grundstück oder der Garage noch Platz einzuräumen. Stattdessen spielen andere Dinge eine Rolle wie Konnektivität und Entertainment. Die Zielgruppe wird größer. Leute, die sich noch vor 6 Wochen nicht vorstellen konnten, mit dem Rad für Erledigungen in der Stadt zu fahren, merken jetzt, wie bequem es ist. Keine verstopften Straßen, keine lange Schlange an der Ausfahrt, keine nervige Parkplatzsuche, sondern Abstellen direkt vor dem Laden.

Zudem machen die Produkte mit ihrem stylischen Design und Finish glücklich, es gibt tolle digitale und technische Features, die dem Auto in vielen Dingen in nichts mehr nachstehen. Natürlich hat auch die Ausfahrt eines „Oldtimers“ am Wochenende noch ihre Berechtigung und ist nicht verwerflich. Mittlerweile ecken SUVs mit ihrem „Schutz vor der Außenwelt“ vielerorts an, während das Fahrrad auch durch das gesteigerte Umweltbewusstsein an Bedeutung gewinnt.

Uns ist aber auch klar, dass wir zwar die Produkte haben, aber nicht die ganze Welt beeinflussen können. Wir können nur versuchen, mit positivem Beispiel voranzugehen und zeigen, dass jeder etwas beitragen kann. Entscheidend ist, das derzeitige Umdenken jetzt zu nutzen. Und all das, was vorher nicht denkbar war und jetzt umgesetzt wird, weiter voranzutreiben. Ob es darum geht, Innenstädte autofrei zu machen, Straßen in Fahrrad- und Spielstraßen zu ändern oder weitere Konzepte zu entwickeln. Das Positive an der Krise ist, dass man jetzt über Dinge redet, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte.

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Corona ist quasi ein Katalysator für die Entwicklung und das Wachstum der Bike-Branche. Welche gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen spielen in Zukunft eine größere Rolle für unsere Branche?

Sandra

Ganz neue Möglichkeiten ergeben sich durch das Thema Konnektivität. Positive technologische Entwicklungen zeigen sich zum Beispiel beim Thema Diebstahlschutz, beispielsweise mit unserem RX-Connect-Angebot. Hier können wir eine 100-prozentige Erfolgsquote durch unsere GPS-Tracker aufweisen. Man kann inzwischen sehr viele Features mit einbeziehen und die Entwicklung wird hier kontinuierlich weitergehen, ob es um Fahrspurerkennung oder Kommunikation mit anderen Fahrzeugen geht. Wichtig ist, die Sicherheit weiter zu erhöhen. In die Produktentwicklung fließen Komponenten wie Abblendlicht, Hupe und Blinker bereits ein. Ein weiterer Trend geht in den multimodalen Mix, also die Verknüpfung von Auto und Bahn. Sharing ist dabei ein großes Thema, das Rad ist dabei nicht nur Rad, sondern Teil einer nachhaltigen und guten Mobilität, die jeder für sich gestalten kann.

Der Facettenreichtum zeigt sich auch beim Thema Lastenrad. Wenn man an die aktuelle Kinder- und Schulsituation denkt, hilft diese Mobilität, den Nachwuchs zu sozialisieren. Kinder, die mit Lastenrädern aufgewachsen sind, bekommen einen ganz anderen Bezug zur Mobilität als Kinder, die bis zum Schulabschluss im Auto zur Schule gebracht werden. Auch hier muss sich vieles ändern, vor allem in der kommunalen Politik. Es muss zum Beispiel gewährleistet sein, dass genug Fahrradstellplätze an Schulen und öffentlichen Plätzen zur Verfügung stehen.

Die Akzeptanz ist generell da, die Zielgruppe wird immer jünger, vor allem auch durch E-Bikes. Sie schließen das Gap in der Zeit, in der viele Jugendliche nicht gerne Straßenbahn fahren. Wenn sie E-Bikes hingegen cooler finden, warum nicht?

Die gesellschaftliche Veränderung ist spürbar, sie ist viel umfassender als beim Mountainbike-Boom. Und das liegt nicht zuletzt an der stark verdichteten Urbanisierung, durch die Autofahren erschwert und stressig ist.

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Auch der Fachhandel unterliegt einem großen strukturellen Wandel: Neue Zielgruppen, Digitalisierung und Multi-Channel – wie kann man den Kauf eines Fahrrads erleichtern und attraktiver gestalten?

Sandra

Für Riese & Müller ist der Fachhandel noch immer ein wichtiger Baustein, weil er die Verknüpfung für den Kunden ist, der ein Service-Thema hat oder die Werkstatt braucht. In den letzten Jahren hat sich hier viel getan. Es gibt mittlerweile tolle Concept-Stores, die nicht unbedingt riesig sein müssen, aber mit guten Ideen begeistern. Fahrradläden bieten verstärkt gemischte Angebote, nicht nur hinsichtlich Bekleidung, sondern auch zu Leih- und Sharing-Konzepten. Der Fachhandel wird immer mehr zum Knotenpunkt für die Community, Rapha ist mit seinem Community Store so ein Beispiel.

Darüber hinaus werden die digitalen Angebote erweitert, vom reinen Online-Handel, den wir selbst nicht anbieten, bis hin zu Click & Collect sowie Direktversand. Gerade jetzt, als der stationäre Einzelhandel aufgrund der Coronakrise geschlossen war, wurde vieles ausprobiert und neue Lösungen wurden gefunden. Es geht nicht einfach mehr darum, dass ein Laden von Eltern übernommen wird. Sondern es entstehen ganz neue Konzepte von jungen Menschen, die mit ihrem Laden oder Angebot ihr persönliches Lebensgefühl einbringen.

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Gibt es etwas, was ihr euch wünscht, um die Entwicklung der Bike-Branche noch weiter voranzutreiben?

Sandra

Es ist mein Herzensthema, sich als größeres Unternehmen ein Stück weit abzugrenzen und der Verantwortung eines neuen Wirtschaftszweiges zu stellen. Etwas zu entwickeln, das nachhaltig ist und nicht nur der Wirtschaftlichkeit untergeordnet wird. Wir wollen herausfinden, welche Bedürfnisse die Menschen haben und welchen Herausforderungen sie sich in ihrer Umgebung stellen müssen. Ich finde es wichtig, auch in politischer Hinsicht aktiv zu werden und die Möglichkeit zu nutzen, dass man ab einer bestimmten Unternehmensgröße gehört wird. Die Bike-Branche besteht aus unglaublich vielen Firmen – zusammen könnten wir viel mehr bewirken, wenn wir alle das Verständnis hätten, dass wir mehr tun müssen als noch mehr Räder zu bauen.

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Wie siehst du die globale Entwicklung der urbanen Mobilität?

Sandra

Sie verläuft zunächst noch punktuell. Aber es ist zu beobachten, dass nach und nach bedeutende Metropolregionen dazu kommen, wie zum Beispiel Detroit, Seattle, San Francisco, Sydney, in denen das Thema Fahrrad deutlich an Bedeutung gewinnt. Neuseeland verzeichnet aktuell ein starkes Wachstum, aber auch Europa, wenn man zum Beispiel an das Rennradland Spanien denkt. Oder auch Italien, wo man einen Umstieg von der Vespa auf das E-Bike bemerkt. Natürlich gibt es auch Länder, die noch nicht so weit sind oder zunächst einmal die Infrastruktur aufbauen müssen. Es ist ja auch wichtig, dass die Politik ihre Prioritäten auf die alternative Mobilität setzt.

Meine persönliche These ist, dass die Entwicklung nur in Ländern funktioniert, die das Auto überwunden haben. China ist zum Beispiel noch kein Markt. Dort sieht man nach wie vor Tendenzen, zunächst den Wohlstand in ein großes Auto zu investieren.

Wir aber überwinden gerade das Auto und können uns da frei machen. Dann kann die Mobilität, wie wir sie uns vorstellen, richtig Fuß fassen.

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Liebe Sandra, vielen Dank für das interessante Gespräch und weiterhin viel Erfolg!


Mehr Informationen zu Riese & Müller findet ihr unter www.r-m.de

Words & Photos: Robin Schmitt