Was bedeutet es zu reisen? Ist es wirklich nur die Möglichkeit, die Sehnsucht nach fremden Orten zu stillen? Oder ist es nicht viel mehr die Chance, in unserer gewohnten Umgebung auch im Alltag Neues zu entdecken? Unser Autor Konstantin Arnold hat sich diese Frage gestellt und uns auf eine ganz persönliche Reise durch seine Wahlheimat Lissabon mitgenommen.

Es geht mir nicht ums Reisen. Das kann ich zu Hause, wenn ich in Lissabon bin. Lissabon, einer der Hintergründe, vor denen sich mein Leben abspielt, die Handlung ist die gleiche, egal wo ich mich aufhalte, die Welt mein Zuhause, aber tief in mir drin. Reisen ist nichts dagegen. All die Kairos, Wiens, Zürichs, Mailands und Roms, nicht der Rede wert, verglichen mit den tastenden Schritten im Dunkeln auf dem Weg vom gemeinsamen Bett in die gemeinsame Küche. Reisen ist ja nicht nur hier und da nicht. Menschen leben überall und führen sich auf. In Lissabon stehen sie mit neuen Turnschuhen und neuen Röcken vor alten Gebäuden und lassen sich von ihren aktuellen Freunden für ihre zukünftigen fotografieren. In den Elektrischen ist kaum noch Platz – wie ich es liebe, diesen Touristen zu sagen, dass sie mal welchen machen sollen, wenn ein Mütterchen mit Beuteln reinkommt, und sie sagen, wieso, steh doch selber auf, bist du denn kein Tourist? Dann schaue ich an mir runter, trage die gleiche Kamera, ein Notizbuch, nur das schon sechs Jahre lang, und viel festere Schuhe. Ich muss die Absätze dauernd wechseln, weil ich ständig gehe, jeden Tag, um mich von diesen Straßen und Gassen in die Wirklichkeit meiner Träume leiten zu lassen. Außerdem gehe ich durch die Rua Restaurante und werde dabei nicht von aufdringlichen Kellnern gefragt, ob ich essen möchte, sondern wie das Buch läuft und wie die Sterne stehen mit Catarina. Es ist egal, wo man arbeitet, wenn man die Welt drumherum nicht mehr sieht. Ich kenne Leute, die lieber hier wären als diese Kellner, aber niemals so lang. Man könnte sagen, Lissabon und ich, das ist wie am ersten Tag, aber es ist mehr als an ersten Tagen. Es ist ein alltägliches Zusichkommen. Man hat den Ort und die Erinnerung an den Ort und sich. Ein Hunger ist in mir, der gieriger wird, je mehr ich darauf bedacht bin, ihn zu stillen. Erst ist man nur entzückt von den Fassaden in den Straßen und will dann wissen, was hinter ihnen ist.

Lissabon ist keine banale Stadt wie Zürich oder London, gemessen an dem Geld, das Leute für Therapeuten ausgeben. Niemand hält hier Ordnung der Ordnung wegen. Keiner geht ohne ein Glas, nur damit der Tag in den Plan passt. Nur von den Menschen, die immer in neue Länder reisen, weil sie hoffen, dass die Länder das Reisen für sie übernehmen, gibt es viele. Sie kommen her, kaufen ein, gucken sich was an, vergessen, wer sie sind. Man zeigt ihnen schöne Orte und wenn man sieht, wie sie diese Orte sehen, sieht man sie nicht mehr und behält sie besser für sich. Man macht selbst Platz für das Mütterchen und guckt böse, bis sie vor irgendeiner Sehenswürdigkeit ausgestiegen sind. Man sieht ihnen nach, sieht wie sie am Telefon kleben, hofft insgeheim, dass sie von einem Uber-Fahrer überrollt werden, der auch am Telefon klebt und denkt, wie Menschen durch diese Stadt gehen, lieben sie auch. Damit ist nicht Lissabon gemeint, sondern der Ort, an dem ich lebe.

Mit diesen Orten verhält es sich, wie mit dem guten alten Bewusstsein für den Tod, für Hotelzimmer, Wein, Sonnenuntergänge und Liebe. Sie sind nicht nur alle in uns, sondern alle am selben Ort, dort, wo auch unsere Zustände sind. Liebe ist nichts, was man bekommt, sondern empfindet, die Bereitschaft, in sich zu gehen, über einen gewissen Punkt hinaus, an dem man immer kommt und immer aufgeben könnte, weil man die Dinge von da an selbst übernehmen muss, und nicht dem Neuen oder Ersten überlassen kann, das schlussendlich sowieso nichts mit den Leuten, nichts mehr mit Orten zu tun hat.

Der Weg in die Ferne führt also nach innen. Er kann gar nicht außerhalb von uns sein, ohne jetzt noch spiritueller zu werden, aber es gibt etwas, das wir in diesem Rückzug erleben. Etwas Einsames, und auch Glückliches. Natürlich kann man seine Liebe auch mit an schöne Orte nehmen und versuchen, auch mit sehr viel sehr glücklich zu sein. Wir nehmen unsere Liebe mit an die schönsten Orte und legen sie in den Alkohol ein, der das Land ist. Ich war gerade erst in Madrid und Madrid ist immer eine sehr glückliche Zeit, aber über glückliche Zeiten gibt es nicht viel zu schreiben, außer man ist sich bewusst, wie kostbar sie sind und wie leicht sie vergehen. Man muss dafür nicht das Leben eines Toreros führen, es reicht, ein Romantiker zu sein, der gerne denkt und weiß, was passiert und nicht passiert und es dann schreibt, als ob es gar nie anders sein könnte.

Man kann Orte wie Gemälde sehen, wiedersehen, oder zum ersten Mal und dann lange nicht; man kann auch etwas von sich dort lassen, das man nur findet, wenn man immer wieder an sie zurückkehrt. Man kann sich an Orte gewöhnen, bis man vor lauter Besorgungen die schönen Straßen oder vor lauter Streits die Straßenecken nicht mehr sieht. In Lissabon gibt es immer noch mehr Orte, die uns verbinden, als die uns trennen, und die, die uns trennen, verschweißen nur die Nähte, die uns die guten gebracht haben. Es gibt Hafenviertel für den nötigen menschlichen Dreck, Heimwege und Wege für Besorgungen, am Pantheon vorbei, die schon die Reise wert sind. Ich zog hierher, um Dinge zu sehen, die mir zu Hause nicht auffallen und um mein Leben dort mit der Fantasie eines Lebens hier zu bezahlen, in dem ich die Hürden des Alltags an einen Ort schleppe, der sonst nur Urlaub bedeutet. Klopapier kaufen, Zahnarzt besuchen, die ganze Wahrheit portugiesischer Hinterhofromantik ertragen. Mit Menschen und Wäscheleinen hinter ihren Fassaden.

So entstehen auch ferne Orte, die nur schön sind, weil man an ihnen vorbeifährt und sie wären es nie, wenn man halten würde, weil sie dann keine schönen Orte mehr sind, durch die man nur fährt. Man kennt das von manchen Frauen, die an einem vorbeigehen. Was müssen die dann schon, außer vorbeigegangen sein? Es geht nicht um die Frau, es geht ums Vorbeigehen und ich bin meinem Freund Josef heute noch dankbar, sich nicht von mir manipulieren zu lassen, in diesem Scheißloch zu schlafen, dass ich mal im Vorbeifahren sah. Die Serra del Moncayo auf der einen, die Picos de Europa auf der anderen. Mit Schnee bedeckt. Dazwischen unerträglich weite Leere. Ich glaube, Pancorbo hieß der Ort gleich nach den Bergen, oder anders rum, kurz bevor der Weg über den Pass führte.

Erst neulich war ich in einer amerikanischen Privatschule und versuchte, Neuntklässlern das zu erklären. Josef ist dort Lehrer für englische Literatur. Ich sollte über meine Arbeit sprechen, aber ohne das Wort Scheiße zu benutzen und er wollte seiner neunten Klasse so zeigen, dass Schriftsteller ganz und gar keine toten Shakespeare sind, sondern lebende Idioten wie ich. Ich musste ihn aber Mr. Hildula nennen. Er kündigte mich mit all meinen Reisen an, die mich schon in viele ferne Länder geführt hätten, auf alle Kontinente und durch alle Wendekreise der Welt. Er zitierte einige Stellen aus meinem Buch, in dem das Reisen noch eine Art Zuhause für mich war. Nicht mehr hier zu sein, aber auch noch nicht da. Hinter mir ein Rollkoffer, vor mir Ungewisses. Hauptsache weg. Türen öffnen. Frankfurt, Johannesburg. Zwischenstopp. Mitternacht, aber zu Hause war doch gerade noch Frühstück. Wecker, Taxi, Übergepäck und dann viel zu teurer Espresso. Ich lebte zwischen den Orten für Momente, in denen Anonymität und nur das Jetzt zählten. Nichts definiert, außer einer freundlichen Begrüßung am Check-in. In Transitzonen sind alle gleich wie vor Bewegungsmeldern. Wandelnde Reisepässe, Namen auf Bordkarten, Fensterplätze, bald über den Dingen, sitzend, aber in Bewegung. Die Welt zu Füßen. Weder Fisch noch Fleisch. Abwechslung, die dann auch zur Routine wurde.

Die Kinder fragten mich nach dem Ort, der mich am meisten inspiriert hätte und ich meinte, immer der, an dem ich gerade bin. Also euer Klassenzimmer und der Weg hierher, den ihr vor lauter Schularbeiten bestimmt nicht mehr sehen könnt. Ich meine, die Touristen machen gegenüber am Fuße der Serra da Sintra doch wochenlang Urlaub. Amerikaner kommen wegen den Törtchen her. Die Kinder stöhnten gelangweilt und wollten wissen, was ich damit meine. Selbst mein Freund Mr. Hildula kam da nicht mit. Sie hatten gehofft, ich würde ihnen von feurigen Völkern erzählen, Tropen und Eisschollen, karibischen Piraten, sentimentalen Walen, spanischen Stieren, Schnee, der auf Zedern fällt, vom Unglück denken zu müssen, einem Horizont, der sich immer mit jenem Stück entfernt, mit dem man ihm näher kommt – aber Reisen ist heute immer noch das, was es nie war. Es gibt keine Wüsten mehr oder unentdeckte Inseln und Meere, nur ein Bedürfnis danach ist noch da. Die Welt würde sie also nicht glücklich machen und das Wort Indianer darf ich vor den Kindern auch nicht benutzen, hatte Mr. Hildula gesagt.

Ich behaupte ja nicht, die Ferne sei damals besser gewesen, vielleicht weniger befahren, nicht so vorhersehbar und fotografiert, auch keine Pflicht, etwas poetischer und gefährlicher vielleicht, wohl aber jünger und nicht so verglichen. Die Telefone sind daran schuld und Erwartungen, die das Vorhandensein großer, unbestimmter, unerfüllbarer Dinge enthüllen. Makellose Strände ohne schlechtes Wetter, italienische Liebesnächte, ohne dass sich jemand verletzt. Diese Vorstellungen führen dazu, dass man sich fest vornimmt, nur so in sie einzudringen, sie zu erleben, aber man scheitert, wie jeder, der auf diese gierige Weise an die Dinge herantritt. Wo ist dieser Ort, das Irgendwo, fragte ich die Kinder, den noch nie einer sah im Nirgendwo?

Ein Kind fragte trotzdem nach meiner letzten Reise und ich sagte Madrid. Die lag ein paar Tage zurück und begann morgens, halb sieben, mit einer Flasche Schnaps am Flughafen. Portugiesische Küche. Die Flasche lag im Duty-Free und darauf stand: Schmecken sie den Wert, den nur das Reisen den Dingen geben kann. Ich fand, dass das schön geschrieben war und da stand auch noch mehr. Über die Rückgewinnung von Momenten, die man dann zu Hause am Tisch miteinander teilt, drauf anstößt – der Digestif am Ende einer jeden Mahlzeit. Solches Marketing macht mich an, aber Mr. Hildula wimmelte ab.

Ich erzählte den Kindern, dass jeder Süden auch einen Norden hat, Arschlöcher und Zahnärzte. Mein Mr. Hildula wimmelte mich diesmal ab, in dem er, hinter der letzten Reihe an er Wand lehnend, mit der Handunterkante seine Kehle durchtrennte, und ich sagte: Ja, um das zu verstehen, muss man sich natürlich herumtreiben in der Welt und Reisen an Orte machen, die einem den Weg zur Arbeit von anderen zeigen. Man muss in Stuben und Stadtbusse sitzen, in Schlafzimmern der Kulturen schwitzen, morgens am Meer, ans Meer überhaupt. Man muss viel sehen und erleben und sich dann erinnern, wie man mit den Sternen hoch hinausrauschte und tief fiel, an langen Tagen kurzer Nächte, von denen keine der anderen glich. Fern von den eigenen Banalitäten, um nah an denen der anderen zu sein. Ein portugiesischer Bauer im Vorbeifahren, eine alte, sonnenverbrannte Frau, die an einer Straße strickt, die poetische Gleichförmigkeit einer lebenslangen Bewegung, die man vielleicht von zu Hause kennt, nur noch nie so gesehen hat. Das schärft den Blick und man kann diesen geschärften Blick dann mit heimnehmen und Dinge sehen, die einem sonst nicht auffallen. Jeder Reisende muss am Ende seiner Reisen da ankommen, dass er auch in seiner Stadt reisen kann, sonst hätte er auf seinen Reisen eigentlich gar nichts gelernt.

Ich übe das seit Jahren und kann Deutschland mittlerweile genauso sehen, wie ich Portugal sehen kann. Vor allem Frankfurt. Mir gefällt der Apfelwein und dass vor der Alten Oper Platanen und Laternen stehen. Außerdem ist man hier nicht nur zum Karneval glücklich, oder so unfreundlich und verlottert wie in Berlin oder bayrisch wie in Bayern. Es ist die erste Großstadt in Deutschland, die ich je sah und vielleicht die erste, die mir etwas bedeutete. Und seitdem ich all die anderen gesehen habe, bedeutet sie mir noch mehr. Frankfurt ist nicht wie und nicht so wie und hat auch keine Ähnlichkeit mit … Die Stadt kommt ohne Vergleiche aus, auch wenn ich sie nie wie Neapel sehen kann. Man müsste es nur versuchen, meint Roland, ab und an. Die Ehefrau wie eine Fremde, eine Straße, die man gut kennt, nur noch nie so gegangen ist. Man tritt Türen ein, springt über Zäune, sitzt nachmittags immer hier und trinkt Apfelwein. Wie Leute durch ihre Stadt gehen, lieben sie auch. Roland geht gar nicht, deswegen ist er noch Single. Sagt man einem Frankfurter wie ihm: Du, Frankfurt im Sommer, das ist aber schön, sagt er nicht, oh ja, Frankfurt ist die schönste Stadt der Welt. Er sagt: Ja, was soll ich sagen, ich lebe hier und bin hier geboren, aber würde nicht sagen, dass es besser als irgendeine andere sein muss und genau das ist besser. Offenbach muss nicht gleich scheiße sein, nur damit Frankfurt schön ist. Jedenfalls sagt man das bei Roland. Er hat einen gravierten Deckel, mit dem er seinen Apfelwein abdeckt, wenn er gerade nicht trinkt, das ist wunderschön.

Von Lissabon aus sieht man Roland, wie man alles Ferne sieht, das man mit seinen Vorstellung bevölkern kann, herausgerissen und eingefügt, wo sonst alles ein Ende hat. Ich habe ihn ganz groß in Erinnerung und wenn ich nach einiger Zeit wiederkomme, wird er klein. Nie sieht man ihn, wie er eigentlich ist, sagte ich zu den Kindern. Es ist ein Gefühl, das ihr vielleicht kennt, wenn ihr einen orientalischen Film guckt oder ein afrikanisches Bild seht oder Schularbeiten machen müsst und euch die Malediven vorstellt, abends, im Winter aus Polen, selbst Alicante wird dann schön, so ein Drecksloch. Mr. Hildula wimmelte mich wieder ab, aber ich versuchte das zu ignorieren. Ich kann einfach nicht verstehen, wie das noch Kinder sind und ihre Unaufmerksamkeit keinem Ego wehtut. Deswegen bekommen Leute wie mein Freund einen Burnout, weil sie es verstehen. Deswegen gehen sie auf Reisen, aber sie tun es aus den falschen Gründen und nie da, wo sie sind. Sie tun es in der Ferne, im Unvorstellbaren, hinterm Horizont, im Nichts. Unsere Alltage unterscheiden sich zu sehr von dem, was wir auf Reisen tun. Warum? Und müssen wir Leben führen, von denen wir Ferien brauchen? Wie lässt sich das Sehnen nach der Ferne in der Nähe anlegen? Braucht es den Orgasmus? Ein ewig Reisender sollte man sein, meint Roland, ohne dass man bestimmte Orte dafür braucht, die uns in einen gewissen touristischen Aggregatzustand versetzen, den wir sonst nicht erreichen.

Ich mache auf Reisen daher einfach immer mit meinem Alltag weiter. Wache auf, trinke Tee, streite mit meiner Freundin, versuche trotzdem zu arbeiten, zu lesen, ein Museum zu besuchen, gehe joggen, schwimmen oder spazieren. Abends gehe ich mit meiner Freundin oder mit Freunden essen und trinke Wein, je nachdem wie lang der Streit geht. Manchmal glaube ich deswegen, dass ich nur noch reise, wenn ich in Lissabon bin, weil ich es hier am besten kann. Natürlich bin ich auch heute noch viel in Ländern, die auch schöne Orte haben. Ich brauche es, um mich von jeglicher Gewohnheit freizumachen, von Weltbildern, Cliquen, Moden, Korpsgeist, Dialekten und Ironien. Um keinen Tag zu vergessen, dass ich in Lissabon bin, wenn ich in Lissabon bin. Vorurteile siedeln sich sonst an, Stereotypen, durch die die ganze komplexe Welt auf einmal einfach in uns passt. Glauben kann man nur sich selbst, indem man sich die Welt für seine Weltanschauung selbst angeschaut hat. Mr. Hildula klatschte. Gut. Vielleicht gilt: Reisen haben immer ein Ende, einen voreiligen Wert, ohne Tod. Man darf die Zeit aber nicht nach Arbeit und Urlaub unterteilen, guter oder schlechter, weil es im Leben diese Unterscheidung nicht gibt. Es ist immer die schlimmste, es war die schönste Zeit.

Es geht bloß nicht darum, wie viele Orte man sieht, sondern wie viel man an einem Ort sehen kann und wie viele von denen dazwischen. Das weiß euer Lehrer viel besser. Erst vor einer Weile sind wir zusammen für eine Woche mit dem Zug umhergefahren und haben nur in Orten zwischen den Orten gehalten, durch die man eigentlich nur fährt. Mit denen, in denen man gerne hielt, konnten wir nichts anfangen. Sie waren ausgehöhlt, Disneyland, eifelturmmäßig, hatten prächtige Kirchen oder Klöster, als ob da irgendwas wäre, die Beine von Heiligen oder die friedlosen Seelen ihrer Missbrauchsopfer, nur keine Leute mehr. Was wir an diesen Orten gemacht hätten? Uns in Bahnhofscafés gesetzt, gelesen, mit Leuten geredet, die das Land sind, einfach da sein. Bekamen wir Empfehlungen, strichen wir sie von der Landkarte. Wir fragten die Leute, wo wir hinmüssten, um zu wissen, dass es für uns da nichts gab. Müllmänner, Männer auf Pferden, Bruchsteinhändler – Fischer und Frauen mit Bart ausgenommen. Es war dann wie montags im März Champagner trinken, den man sich für Silvester aufgehoben hat. Es hatte auch nichts mit den Orten zu tun, sondern nur mit den Hoffnungen, die man an sie hat und den Erwartungen, die sie vertreiben. Die meisten dieser Orte waren aus einer Kirche und einer kleine Kneipe gemacht, und einer Straße, die durch das alles führte und von zwei Ampeln begrenzt wurde. Die Kirchen konnte man von weitem sehen, ohne auf die Kneipe schließen zu können, aber im Nachhinein lässt sich sagen: Je weniger Turm und je mehr Mauer der Kirchturm gewesen ist, desto netter die Leute an der Bar. Es waren Männer aus Dörfern, die kaum auf die Karte passten und jedes dieser Dörfer, das wir verpassten, tat weh. Die Männer vor den Lokalen hoben im Vorbeifahren ihre Hand und man wollte alle Männer an allen Orten gleichzeitig sein. Es waren stets Männer ohne Frauen, deren Gewohnheit auf unser Interesse knallte. Sie saßen draußen auf Plastikstühlen vor dem Lokal und sahen den Autos nach, irgendwas, das sich bewegte. Manchmal kamen auch Frauen in Schwarz, sie kamen aus der Kirche und die anderen Männer, die noch am Leben waren und stehen konnten, töteten sich langsam an der Bar. Aber immerhin, das Dorf kam zusammen. Der Wein ölte die Leute untereinander und die Leute waren nicht wie wir sind. Sie hielten es aus und redeten nicht schlecht übereinander und wenn einer was Schlechtes sagte, dann zuckten sie nur mit den Schultern, schenkten sich neuen Wein ein, bis eine bestimmte Stille eintrat. Sie kannten sich sicher seit Jugendtagen und trugen jene Merkmale mit sich und jene Erfahrungen und Erinnerungen miteinander, vor denen sie einander nicht scheuen. Sie stellten sich dem, was zwischen ihnen passierte und waren zufrieden damit. Sie wurden in diesen Dörfern geboren und werden in diesen Dörfern sterben. Dazwischen sind sie einer Arbeit nachgegangen und haben einen Menschen geliebt. Begrenzt wird das Glück also nur von Leuten, die aus Rücksicht nie ganz ehrlich sind oder von außerhalb kommen, abgesehen von denen, die so ehrlich sind wie das Land selbst. Es ist das, vor dem wir uns fürchten und in immer neue Städte flüchten, mit immer neuen Menschen, bis keine Städte und keine Menschen mehr übrig sind. Wir lassen verbrannte Erde zurück und pflanzen woanders Blumen. Diese Leute haben keine Wahl und müssen sich mit sich und dem Dorf rumschlagen, ob sie wollen oder nicht, und das macht ganze Frauen und ganze Männer aus ihnen.

Ich sagte zu den Kindern, man müsse sich schon sowas vornehmen, ganz so einfach gehts nicht, eine Vorstellung haben, zumindest, von etwas und dem, was man tun wollte, einen Plan, von dem man dann abweichen kann, um es dann nicht zu tun, weil es nie so gut geworden wäre, wie wenn mans getan hätte. Versteht ihr, hätten wir uns da was fest vorgenommen, dass sich nicht verschieben ließe, wie im Park zu liegen oder in einem bestimmten Lokal an einem Tisch zu trinken, zu einer Zeit, in der alles ist, wie es nie war, wäre es nie so gewesen. Man hätte eine genaue Vorstellung davon gehabt, wie es werden müsste und die Tische wären nie so frei gewesen wie für uns. Man darf seine Ziele nicht aufgeben, aber auch nicht so ernst nehmen wie sie sind, denn sie sind ein Vorwand. Die Suche nach dem ultimativen Moment, obwohl der Moment immer da ist, wenn man spürt, dass die Sonne über einem ist.

Einmal fuhren wir zwei Stunden, um eine Kirche zu sehen, die jemand sehr nah ans Meer gebaut hatte. Wir sahen die Kirche vom Bahnhof aus und sahen den weiten Weg und dachten, dass der Weg dorthin besser wäre, als jetzt dort drin zu sein. Ja, wo will man denn hin? Erreicht man ein Ziel, wird es die Schwelle zum Nächsten. Das Einzige, das es wirklich gibt, ist endgültig und wäre fatal. Ziele sind Stecknadeln, zu denen wir uns aufziehen. Eine Übersetzung für Menschen, die die Sprache des Gehens nicht sprechen. Es sind nichts weiter als Entschuldigungen, wie Einkäufe welche sind, Abschlüsse, Auslandssemester, Cafés in der Sonne, Vaterunser und Zigaretten. Ihr dürft das Reisen nicht den Orten überlassen. Ihr müsst den Blick dafür behalten, die schöne Straße am Berg vor lauter Schularbeit wieder zu sehen. Den Körper einer Frau, und nicht nur den eurer Freundin, mit der ihr ständig streitet; den Terreiro do Paço und nicht nur die Leute, die über ihn gehen. Der Mensch gewöhnt sich an alles, an Mac, externe Tastaturen, an das Schlechte, aber leider auch an das Gute. So ist unser Betriebssystem nun mal, bedenke man den Zug, mit dem die Dinge und Menschen und Verhältnisse in unser Bewusstsein krachen. Ich wollte noch erzählen, wie das beim Wein ist. Wenn sich der Körper nicht daran gewöhnen würde, müsste man nicht immer mehr trinken. Ich hätte auch ein Zitat von Lessing dazu gehabt (zu viel kann man wohl trinken, nur nie genug), aber Mr. Hildula sagte Danke, Danke und zwang sie zu klatschen. Ich sagte zum Schluss, wer am Ende seiner Reisen nicht zu Hause reisen kann, hat überhaupt nichts von seinen Reisen verstanden. Nur wer selbst ein lebenslanger Tourist ist, in der Stadt, in der er lebt und sich gleichzeitig nicht mehr wundert, wenn Hunderte vor der Elektrischen im Sommer Schlange stehen. Mr. Hildula sagte Danke und fragte, ob es noch Fragen gebe. Ein Mädchen fragte, ob ich auch Briefe schreibe und ich sagte: Ja, klar, aber Briefe kommen heute meistens leider immer erst nach einem an, genau wie unsere Seelen. Wir können unseren Werkstoff nicht im Nu von einer Stelle zur nächsten schaffen. Deshalb hasse ich die Zeit nach einer Reise, bis sie geschrieben ist. Die Seele kommt erst nach einem an und meine Seele ist noch sehr klassisch. Die Kinder fragten, ob sie mir auch eine Mail schreiben könnten, und ich sagte, na klar. Zuhause erzählte ich meiner Freundin von meinem Tag und der Tag war vor ihr nie so cool, wie er vor den Kindern gewesen ist. Vor einigen Tagen erhielt ich sogar eine Mail. Eines der Mädchen schrieb, sie hätte heute auf dem Weg zur Schule den blauen Himmel gesehen und die Serra de Sintra und wie schön die Schule dann war.

Words & Photos: Konstantin Arnold