Prachtstraßen – viele kennen ihre Namen, waren auch schon dort. Doch wer kennt die schönen, romantischen und geschichtsträchtigen Momente, aber auch die schlichten oder die hässlichen, die sich dort abgespielt haben und es bis heute tun? Unser Autor hat sich auf die Reise gemacht und ist gedankenverloren durch die bekanntesten Straßen Europas geschlendert.
Wenn man nach Prachtstraßen im Internet sucht, kommt: breite, oft geradlinig verlaufende Straße, die von Bäumen und imposanten Gebäuden gesäumt ist. Wie unemotional, fast schweizerisch, gäbe es nicht so viel Literatur und Film, durch die manche von ihnen zu Legenden geworden sind. Die Wiener Ringstraße zum Beispiel wird jeden Tag aufs Neue von irgendwem erfunden. In anderen Städten ist das nicht so. Man lebt und wird erst dann zur Legende, aber in Wien, vom Café Bendl bis zum Hotel Bristol, besteht die Legende schon und die Leute fangen einfach an, danach zu leben. Anders die Via Veneto in Rom – zwar keine Prachtstraße, aber das ist ja mein Text und ich will mich auf schöne Straßen beschränken, die ich selbst betreten, bewundert, bewältigt und vollgeascht habe. Jeder hat da seine eigenen, die er mit Erinnerungen vollpflastert und mit Sehnsüchten bevölkert. Das kann die Spielstraße im Vorort einer Trabantenstadt sein, solange sie aus dem Größenwahn eines Tyrannen entstanden ist, mit Weitsicht gebaut wurde und heute mindestens einen Gucci-Shop hat. Manche dieser Straßen sind Bühnen gewesen, auf denen sich die Europäische Kulturgeschichte am liebsten abgespielt hat. Andere leben heute noch als Alleen mit Bürgersteigen dran, die wie Laufstege funktionieren und Caféterrassen zu beiden Seiten haben, die für das nötige Getuschel, Gerangel, Gepfeife sorgen, wenn das Leben in Form zu nah an der Bestuhlung vorbeigekommen ist.
Rom – Via Veneto
Man kann Rom eigentlich nicht denken, ohne es gesehen zu haben. Antikes Herz einer Weltmacht, religiöses Zentrum und dann auch noch Hauptstadt Italiens. Worthülsen, Geschichtsunterricht, sonntags verkatert TerraX, bis man selbst im Taxi sitzt und sagt: Via Veneto, bitte! Bello, entgegnete der Taxifahrer, ob ich Fellinis Roma gesehen habe? Nein. Und La Dolce Vita? Ja. Bello, meinte der Taxifahrer, die Szene, in der Marcello Mastroianni mit Anouk Aimée an der Bar lehnt, wäre gleich hier. Sie ging um die Welt als kinematischer Beweis, dass sich Italien vom Krieg erholt hat und im Blitzlicht der Via Veneto wieder erstrahlte.
Fellini, Visconti, Bellucci – der Taxifahrer sprach von so vielen Filmen, Autos, Kleidern, Frauen und Männern, der Länge jeder Filmaufnahme und jedem Schwarzweißbild, das man sich aufhängen kann. Die Liste ist lang, aber man hat doch nur ein Leben und das hat Vorrang und ist nie genug. Certo, meinte der Taxifahrer, es sei nicht leicht, in Rom einen Film zu sehen, aber alle, die welche gemacht haben, hätten auf den Bürgersteigen dieser Straße gesessen und sich aufgeführt oder abgespielt und betrunken. Diese Straße wäre das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der 50er und 60er gewesen, eine Meile aus Fleisch und Blut, neuen Alfas, wie dem von Pier Paulo Pausolini, dem Gesicht einer schönen Frau im Vorbeigehen. Prinzen und Produzenten kamen damals hier vorbei: Umberto Eco, Jean-Paul Belmondo, Ursula Andress, Cary Grant, Michelangelo und Monica Vitti. Ava Gardner, Kirk Douglas, Liz Taylor und Frank Sinatra, der in Rom und Madrid nach Ava Gardner sucht – auf den Spuren ihrer im Nachtleben verloren gegangenen Diamanten. Aber der größte von allen wäre Marcello Mastroianni gewesen, denn er, der Sophia Loren dreizehn Mal auf der Leinwand geheiratet hat, hätte immer hier gesessen. Er zeigte im Vorbeifahren auf die zusammengekettete Bestuhlung von etwas Geschlossenem: Gran Caffe Roma. Und hier das Doney, gar nicht weit vom Café de Paris, in dem der fette Ägyptische König Faruk 1965 nach einem Abendessen zusammenbrach.
Die Gegend sieht tot aus, sagte ich, ist aber auch schon nach acht. Ist tot nach acht und davor, meinte der Taxifahrer. Ein einziger Laubhaufen. Heute stehen hier so langweilige Dinge wie Botschaften und Ministerien für Soziales. Es ist eine leere kosmische Kurve geworden, kein Boulevard mehr, mit dem Hotel Excelsior zur Rechten und Harry’s Bar zur Linken, wenn man in Richtung Borghese fährt, so wie wir. Früher wäre hier der Teufel los gewesen – Via Veneto, man! – sehen und gesehen werden. Internationaler Jetset. Irgendein reicher Römer will die Straße jetzt zu neuem Leben erwecken. Wir fuhren eine ganze Weile und kamen an vielen gewaltigen Gebäuden vorbei und ich fragte nur einmal, beim Monument für Vittorio Emanuele, ob das noch die Via Veneto wäre. Der Taxifahrer meinte, nein, wir machen einen Schlenker. Obwohl das Hotel auf der Via Veneto ist? Ja, ja, wir wären schon auf dem richtigen Weg und der richtige italienische Weg ist eben manchmal ein Umweg. Was hat man denn davon, immer gleich anzukommen? Ob ich La Grande Bellezza gesehen habe?
Madrid – Gran Vía
Warum? Weil hier Frank Sinatra nach Ava Gardner weiter suchte und sich im Chicote deswegen mit einem Stierkämpfer prügelte. Die Aushängeamerikanerin kehrte der freien Welt in den 40ern ihren schönen Rücken zu und ging ins katholischste Land der Welt, um sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Sinatra wurde wild und flog her, aber die Spanier hielten dicht. Ava? Nein, Ava habe heute Nacht noch keiner gesehen. Nicht auf der Gran Vía. Diese schöne schwere Straße mit den mächtigen Fassaden ihrer Geschichte, aus der Spanien nie wieder auferstand.
Die Gestalt dieses Landes ist hier wie nirgendwo eine Erinnerung. Seit 1898 höchstens einen traurigen Seufzer wert. Die Häuser sehen aus wie Stockwerkpaläste und die Stockwerkpaläste wie Burgen. Monumental, verziert. Das Telefónica-Gebäude ist grauenhaft und hat Francos Augen. Tagsüber sind die Fensterläden vom Sommer erschöpft und nachts leuchten einige von ihnen verhörrot oder geheimarchivgelb. Die Gran Vía ist eine Schlucht, die das Leben verschlingt und den Abend rumbringt. Hier treibt man sich rum, wenn einen die Eitelkeit aus dem Schwitzschlaf rüttelt und zum Tanzen treibt. Man wacht spät auf und geht noch später zu Bett, obwohl in Spanien rein gar nichts zu spät ist. Hier fließt das Treiben der Menschen aus Trieben, Angelegenheiten, Besorgungen, Tätigkeiten und Themen, bis sich alles erschöpft und verstopft und alles wieder von vorn beginnt.
Die Gran Vía hat einen Bypass, den aber kaum einer geht. Frühs sieht man viele geschäftige Frauen, die aussehen wie Reiterinnen ohne Pferd und nie allein sind. Selbst die, die allein sind, stehen mit jemandem vor einem Büro und rauchen oder gehen in ihrer Pause irgendwohin, um sich bewundern zu lassen. Es sind blonde, spanische Frauen, die Stiefel anhaben und sich mit Tüchern behängen und Chaquetillas tragen wie Stierkämpfer. Frühe nannte man die Tracht, in der sich Madrileñas nahmen, was sie wollten, Chulapa. Heute ist das nicht mehr als ein Fußballspieler. Sie haben klare, herbstliche Gesichter und sind sehr beschäftigt und manchmal fragt man sich, wie es gewesen wäre, wenn man sich für Spanien entschieden hätte und eine stolze spanische Freundin mit stolzen spanischen Freundinnen und einer stolzen spanischen Familie und sich dann fragen würde, wie es wäre, wenn man sich für eine noch stolzere Portugiesin entschieden hätte. Portugiesinnen und Spanierinnen unterscheiden sich in jenem Stolz, den man nicht aus- und auch nicht wieder anziehen kann.
Paris – Boulevard du Montparnasse
Nur weil es sein muss, ich aber eine begrenzte Zeichenzahl habe und Paris immer Paris ist und ist, wie es ist, will ich hier nicht viel mehr schreiben. Paris steht am Anfang von allem. Mit Paris ging alles los. Paris war das Ende von etwas und der Beginn von etwas Neuem. Diese Stadt änderte mein Leben. Sie machte mich reich, denn sie brachte mich zur Kunst. Seit Paris weiß ich, wozu das alles und warum alles passiert, also alles, das bis Paris nie wie Passieren ausgesehen hatte.
Die Stadt gab mir Augen oder sie lehrte den Alten, alles wie Paris zu sehen. Seit Paris will ich werden, was ich bin: Ein Mensch, der sich in Lissabon von seinen Leidenschaften ernährt und deshalb ab und an auf der Baustelle schaffen muss. Das hat Paris schon mit vielen gemacht. Das Besondere in meinem Fall: Ich war vorher nie da, bin nur mal durchgefahren, stand im Stau, hab von der Champs Élysée aus den Eiffelturm gesehen und mir an einer Raststätte die Wertsachen klauen lassen. Aber ich hatte alles über Paris gelesen, alles, was man über den Umbruch in die Moderne, diese letzte große Jahrhundertwende, die Belle Époque und den Krieg, der alles zerstörte und zu Goldenen Zwanzigern werden ließ, lesen konnte. Ich weiß, in welcher Etage Vincent van Gogh wohnte, wo sich Monet und Renoir kennenlernten, in welchen Schenken sich Maurice Utrillo besoff, wann Max Jacob schwul wurde und wieso er Guillaume Apollinaire hasste. Was Picasso damit zu tun hatte und an welche Straßenecken Paul Verlaine nach wie vielen Absinth kotzte, weiß ich auch. Ich weiß, wer mit wem vögelte und auf welcher Parkbank Anna Achmatowa mit Amedeo Modigliani unter einem schwarzen Regenschirm saß. Ich weiß, warum Daniil Charms nach Paris kam und in welche Cafés sich Henry Miller setzte, wenn er sich Café au Lait leisten konnte. Ich las Francis Carco, Arthur Rimbaud, Joseph Roth, Murger, Breton, Hemingway, Lautréamont. Nur Fitzgerald konnte ich nicht lesen. Sie alle hingen hier ab: Café de la Rotonde oder Dôme, Hauptsache Boulevard du Montparnasse. Die Künstlerrepublik des 20. Jahrhunderts zog erst die Maler des rechten Seineufers und später die ganze Welt in ihre Cafés.
Alle kamen sie her, auf dass sie Kreatives zur Welt bringen. Schriftsteller und Maler und die, die Schriftsteller und Maler werden wollten. Alle, die etwas aus sich machen wollten und alle, die das nicht wollten und darauf hofften, dass die Cafés das für sie übernehmen würden. Die Bürgersteige unter den Markisen der Rotonde und dem Dôme bis zur Closerie des Lilas waren Bühnen ihrer Zeit. Auch heute noch schön, selbst wenn ein Citroën Picasso vorbeifährt. Paris, Paris, wieder viel zu viel geschrieben.
Wien – Ringstraße
Wien, Ringstraße, an einem brütend heißen Sommertag. Die Stadt – leer wie nie und flach wie immer. Gerade mit dem Nachtzug aus Zürich gekommen. Hätte alles so schön werden können, Wien und Wein und wir und abends meine Lesung im Sperl, aber dann rief mein Lektor an und meinte, wir könnten nicht bei ihm schlafen und müssten uns für heute Nacht um ein Hotel kümmern. Ohne Geld. Im Epizentrum von allem, gleich an Stefan Zweigs Ringstraße. Das Leopold nicht weit, die Oper über die Straße, die Secession eine Zigarettenlänge weit entfernt. Nur ins Burgtheater wäre es noch ein Stückchen, meinte der Portier vorm Hotel Bristol, aber das führe an der Nationalbibliothek vorbei. Denkmal der Gedanken und der Freiheit der Gedanken in der Welt. Ein besonderes Gebäude. Aber alle Gebäude in Wien sind etwas Besonderes und die, die nichts Besonderes sind, sind hoch und schön und stolz, patina-schwitzend.
Die Fassade des Bristol ist vielleicht stumm und grau, aber drinnen ist es gold und schön und blau und so wie es sein sollte. Die Fenster sind wie die Bilder einer Oper. Auf die inneren Werte kommt es an. Da kann das Grand Hotel, die Ringstraße runter, noch so weiß gemalert sein. Hier kam also die Welt vorbei, tagsüber, wie Unter den Linden. Vom Café Prückerl bis zum Café Bendl, auch wenn das nicht mehr auf der Ringstraße ist. Man geht sie aber immer bis zum Rathauspark und dann links. Der Portier war sehr nett und behandelte uns gar nicht wie Verrückte, obwohl wir einfach gefragt hatten, ob sie einen gestrandeten Autor mit Freundin eine Nacht aufnehmen können. Er sagte ganz klar, der Concierge müsse dafür mit der Direktorin sprechen. Wien ist doch eine wunderbare Stadt, noch so, wie es nie war. Es gibt Frauen und Männer, die gibt’s gar nicht. Männer in Anzügen, die gar nicht zur Bank müssen, Portiers und Opernsänger, die ihre mit Schmuck und Pelz beladenen Ehefrauen die Ringstraße raufschleppen und sich an ihnen festhalten, als würden sie fallen. Dazwischen die denkmalgeschützten Reste einer großen Jahrhundertwende, in der alles aufeinander krachte. Antagonisten, Protagonisten, Aktion, Reaktion, Monarchie und Moderne, Ost, West, Zionismus, Antisemitismus, Armut und die versammelte Dekadenz des Fin de Siècle mit einem Höhepunkt geistiger Schaffenskraft; Freuds Psychoanalyse, Mahlers Theaterrevolutionen, Schieles Bilder. Pausenlose Prostitution, Separees, in Sittenrüstungen gezwängte Frauenzimmer und mit 14 verheiratete Mädchen. Extreme von epischen Dimensionen, zwischen denen gewaltigste Energien fließen.
Es hatte Gründe, dass Freud, Wittgenstein und Schiele keine Pariser waren und die Ringstraße frequentierten. Europa wurde hier geboren. Die Stadt kämpft mit Hofschuhmachern, Fleischhauern und Sperltorten immer noch gegen internationale Hässlichkeit. Manches aus dem Internet findet sogar noch auf der Straße statt. Die Kellner sagen Hallo, der Herr und nicht Servus oder Nichts oder Moin oder so einen Scheiß. Wieder in Wien sein, Parisienne rauchen und ins Kaffeehaus gehen und so begrüßt werden. Die Wiener nehmen ihre Handlung sehr ernst, vor allem die der Oper, und wenn die so ist wie das Leben, legen sie Einspruch ein und schreien nach Tragik oder Happy End, bis der Regisseur kommt und bittet, sich doch zu gedulden, der Held erhänge sich ja im nächsten Akt. Ein Wiener verschwendet seine höchste Emotion an persönliche Vorgänge. Eine Unterhaltung mit ihm wird zum Schauspiel, zur Kunstform. Er verbringt den Großteil seines Lebens im Kaffeehaus und im Konjunktiv. Sein Umgang mit dem Tod ist beneidenswert, weswegen Wien eine gute Stadt zum Leben, aber auch zum Sterben ist. Leonie Rysanek sang und starb hier und wurde zur Legende, nicht wie in anderen Ländern, in denen eine Legende so wahr werden muss, dass sie stirbt. Ihre Stimme kam direkt von Gott, klang nicht nach Arbeit, Mühe, Ehrgeiz – das mögen die Wiener nicht. Der Wiener will gut angezogen vor einem Café sitzen, eine Frau lieben, anderen hinterhergucken, schon jung sehr alt sein, gut essen, trinken, ein paar Fantasien haben und einen Freund, der das Leben auch für beendet erklärt, seitdem er Kinder hat.
Der Portier bat uns in die Lobby. Die Frau Direktorin möchte sie gleich sprechen. Elegant und höchstpersönlich. Sie fragte, ob wir eigentlich glauben, was wir da sind und sagte, das gehe so einfach nicht, man könne hier nicht einfach so eine Nacht bleiben, bei uns wohnt man mindestens zwei Nächte.
Neapel – Via Toledo
Die Via Toledo in Neapel ist eine klassische Einkaufsstraße. Voll wie Sau, außer man geht am kühlen Morgen eines heißen Tages 1,2 Kilometer lang von der Piazza Dante auf die Fontana del Carciofo zu, um im Gran Caffè Gambrinus zu frühstücken. Man kommt fast am Piazza Bellini vorbei und an der Galeria und der Oper, wenn man kurz vor der Fontana del Carciofo durch die Galeria gegangen ist. Am Ende steht das Grand Caffè Gambrinus. Die haben den schönsten Fensterplatz der Welt. Salon, zweiter Tisch links. Man sitzt vor den Augen gemalter Frauen an offenen Fenstern, blättert in der Zeitung, hat den Tag vor sich und schaut auf den frühen Platz, der sich in der Sonne wärmt, wie schon viele hundert Jahre zuvor.
Schon zu Zeiten der Grand Tour, jener offiziellen Kavalierstour, die aus vielen noblen Gründen bestand, aber eigentlich nur dazu da war, Erfahrungen in erotischen Dingen zu sammeln, wie man das damals nannte. In jener Zeit musste jeder, der was auf sich hielt, einmal im Leben über die Alpen bis Amalfi und dann die Toledo runter. Und das ist heute noch so. Freundet man sich beim Pizzaessen oder bei dem Versuch im Glanz der Seuchenstadt die schönsten Monumente zu finden, mit einem echten Neapolitaner an, lernt man diesen oder jenen kennen, muss hier essen und dort und unbedingt noch das probieren, das gesamte Spanische Viertel hoch. Man landet in dunklen Hinterräumen, fährt helmlos auf fremden Motorrädern, betritt nationale Monumente, die mit einem Zwinkern bezahlt werden, gratuliert auf Hochzeitsfeiern, soll irgendeine Cousine heiraten, trauert auf Beerdigungen mit, besucht private Theaterproben und speist am Esstisch eines Vascios, bei einer ehemaligen Prostituierten.
Man kann nicht entkommen. Wird reingezogen ins Leben der Via Toledo, in die nun die Massen aus dem Spanischen Viertel ins Hafenviertel fließen. Man wird Teil davon, verschwimmt, ist ein Tropfen im Meer. Reißt sich los und verläuft sich durch Gassen mit vielen Buchläden, die nach Mitternacht auch noch Bars sind. Man sollte doch auf der Via Toledo bleiben, nicht runter bis zum Café La Nova Central, trinkt dann halt doch noch einen mit, auf einem Platz, der sich vor einer dunklen Kirche breitgemacht hat. Auf den Tischen Kerzen. Um einen die Durchsichtigkeit der Nacht, die Sehnsucht der Dichter und das Resignieren der Armen.
Lissabon – Der Chiado
An einem feuchtkalten Januartag im Juni, es ist zum Zerreißen kalt, tritt nach durchzechter Nacht, frühmorgens, eine Gruppe Männer in das Lokal, und verlangt nach Kaffee. Sie sehen fertig aus und stinken, riechen das aber nicht. Ihre Anzüge sind geknittert. Der Rest ist von Leidenschaften verzehrt. Von einem Leben, davon, dass sie für Momente kämpfen, die in Schönheit und Wahrheit alles überstrahlen und davon, dass sie keinem davon erzählen, außer denen, die es mit ihnen erlebt haben.
Leidenschaft ist vielleicht das schönste deutsche Wort, das es gibt, auch wenn es nicht so klingt. Aber wenn alles klar wäre, wären sie dann um diese Zeit ins Lokal gekommen? Würden sie ihre Frauen lieben und ihnen alles geben, das Glück, genauso wie das Unglück, das dafür nötig ist? Diese Männer stehen in Verbindung mit ihrem Innersten, ihren Gefühlen und Gedanken und sie kämpfen dafür. Sie können nicht anders. Sie müssen es tun und damit ist ihnen Genüge getan. So stelle ich mir das zwanzigste Jahrhundert vor, als man noch überall Rauchen durfte und die Mischung aus Caféterrasse und Zeitungsläden zu einem intellektuellen Urknall führen musste, der sich nicht im Internet ruinieren ließ. Lissabon ist Portugals Kapitale und der Chiado das Zentrum der Stadt. Vierzig Jahre lang fand das literarische Leben Portugals hier statt. Es war die Brutstätte. Manchmal sonderbar provinziell, außerdem eine Meile, auf der man seine Sonntagsgarderobe bergauf tragen musste. Die teuren Geschäfte lockten die Weiblichkeit an, was wiederum galante Männer herführte und sich der Kreis wieder schloss und von innen heraus selbst befruchtete wie ein Farn.
Wer was auf sich hielt und hält, geht ihn hoch und runter, schaut oder lässt sich anschauen. Umarmungen ernster Männer, internationaler Lärm, Leuchtreklame, aber ohne Rauch in den Cafés, denn das war alles in einer Zeit, in der Männer noch Hüte trugen und Lissabon das Küssen auf den Straßen nicht konnte. Man pfiff Frauen nicht nach, sondern fing schon von weitem an zu pfeifen, weil es sich nicht schickte, eine Dame auf offener Straße anzuhalten. Es gibt noch einen Hauch davon. Nachmittags, wenn alle gefaltet von der Arbeit kommen. Wenn der Morgen seine Versprechungen nicht über den Tag halten konnte. Ansonsten hat der Tourist den Chiado zurückerobert. Man presst sich in der Mittagshitze durch ihn durch wie Thrombosen durch Venen und Ricardo vom Café Nicola bindet ihm den Latz um. Er hat keinen Schimmer, was hier war, und isst zu Unzeiten, weil er sich den Tag nicht einteilt und im August kommt und sich seinen Hunger mit Sandwiches zerstört. Er tut es nicht in einer Tasca, wo das Essen gut und der Wein billig ist und langsam tötet. Die Rua Garrett ist wieder die gleiche geile Meile, Welt der Andeutungen und Anträge, ein soziologisches Schlachtfeld, Manövergelände für die Empfindungen und Gefühle Tausender, Schauplatz des konventionellen Flirts, der in Portugal immer noch fast verboten ist. Außer in einem Café, ab Mitternacht.
Mailand – Via Alessandro Manzoni
Endlich Sonne in Mailand. Nicht nur gut gekleidet durch schlechtes Wetter. Lebensmittelpunkt Mode. Prada, Penner und Espresso. Einkaufen und sich betrinken und endlich diese Pizzadinger, von denen alle reden. Die kalte Luft der Berge zieht ins Tal. Die Elektrischen fahren gerade irgendwohin. Es wird dunkel, lange bevor die Tage zu Ende sind und angenehm auf der Via Alessandro Manzoni, sobald die letzten Modepuppen geschafft aus Geschäften kommen und ihre Einkäufe nach Hause schleppen oder schleppen lassen. Das stille Licht der Auslagen fällt leise auf das Pflaster und man schlendert eingehakt, den Kopf im Kragen, an den Schaufenstern vorbei, wirft von seinem Glück aus, einen Blick rein, in die Welt der toten Dinge.
Es ist schön, jung und verliebt in dieser Stadt zu sein, ohne sich was kaufen zu müssen. Es mein erstes richtiges Mal hier, denn beim ersten Besuch wusste ich noch nicht, wer Puccini ist, wer Verdi und wer Antonio Mancini, der das Aristokratenpack wenigstens in Tränen malte. Ich hatte nur Augen für brave Mailänder Mädchen, dünn und blass, von Beruf Tochter. Ich erinnere mich an eine von ihnen und an den Regen, eine semitransparente Gardine, den Nebel und den Park, den ich von meinem Fenster im Nebel sehen konnte. Heute strahlt der Park im letzten Licht und heißt Giardini Indro Montanelli. Wir gehen gerade durch. Von hier aus weiter bis zum Duomo, auf dem in meiner Erinnerung immer einer Nothing Else Matters spielt. Schlendernd durch die Galeria und trinken einen Kaffee bei Camparino im Stehen. Ich weiß jetzt, dass das die Scala ist und die Galeria Vittorio Emanuele heißt. Ich gehe frühs zu Cova und schreibe Briefe. Mittagessen Milanese. Tragische, schöne Schwere. Ich reduziere die Stadt nicht nur auf Mädchen, die gut gekleidet durch schlechtes Wetter gehen und ihre Einkäufe tragen (lassen). Ich habe den Platz mit dem Leonardo gesehen. Mit einer Frau. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Ich würde jetzt noch über ein paar andere (Straßen) schreiben, aber die Zeichen gehen aus. Sind jetzt schon viel zu viele. Auf jeden Fall würde ich über die Zeil in Frankfurt schreiben, weil ich mit 14 dort mein ganzes Konfirmationsgeld verprassen durfte, während meine Mutter ihren zukünftigen Lebensgefährten in einem Café kennenlernte. Außerdem habe ich mir dort mein erstes Macbook gekauft. Bockenheimer Straße, ist doch die Zeil, oder? Das Internet darf als Prachtstraße natürlich auch nicht fehlen, weil vieles, was das Leben in diesen Straßen auszeichnete, heute nur noch dort stattfindet. Sehen und gesehen werden, kaufen, reden, Neuigkeiten und Sex. Berlin, Unter den Linden wäre auch noch der Rede wert, aber nur, weil das ein schöner Name ist.
Words & Photos: Konstantin Arnold