Göksel Erdogan ist ein Meister unter Meistern. Erfahrene Kung-Fu-Lehrer aus aller Welt reisen nach Stuttgart-Zuffenhausen, um von ihm zu lernen. Mit seiner G.E. Ving-Tsun-Linie hat er eine rasant wachsende Kung-Fu-Schule aufgebaut und zudem die Ving Tsun University ins Leben gerufen. Von Hongkong bis Mexiko, von Tunesien bis Großbritannien – fast jede Woche unterrichtet er in einem neuen Land. Warum? Weil er alte Prinzipien neu denkt, biomechanische Effizienz über alles stellt und jede Technik physikalisch präzise erklären und anwenden kann. Den Unterschied erkennt man als Experte – aber spüren kann ihn jeder. Sofort. Damit ist er vielen traditionellen Meistern weit voraus, die viel predigen, aber Theorie und Praxis selten in Einklang bringen.
Wir haben Göksel in seinem Dojo getroffen und ihn bis nach Hongkong begleitet – in die Wiege des Kung-Fu. Dabei wollten wir herausfinden: Wie kann Kung-Fu unser Leben verändern? Was ist Mythos, was Realität? Wie hilft es, im Alltag gelassener zu bleiben? Und warum zählt Effizienz mehr als rohe Kraft? Ein Gespräch über Explosivität, Kontrolle und die Kunst, stabil zu bleiben – egal, was kommt.

DOWNTOWN Magazin: Lieber Göksel, die meisten Leute kennen Kung-Fu nur aus Filmen. Warum ist es auch im echten Leben interessant?
Göksel: Ab einem gewissen Level geht es im Kung-Fu vor allem um emotionale Kontrolle. Du kannst deinen Körper nicht präzise steuern, wenn Ängste oder Aggressionen in dir wüten. Auf fortgeschrittenem Niveau musst du Bewegungen so genau beherrschen wie ein Computer seine Prozesse. Natürlich bleibt das ein Ideal, das man ein Leben lang anstrebt, aber es funktioniert nur mit einer bestimmten Form innerer Ruhe.
DOWNTOWN Magazin: Also geht es viel um die richtige Reaktion auf Ereignisse?
Göksel: Genau. Oft reagieren wir impulsiv – sei es aus Wut oder Angst. Vielleicht glaubst du, zurückschlagen zu müssen, oder du hast Angst, dass alles eskaliert. Im Kung-Fu lernst du, auf diesem schmalen Grat zu balancieren und dich weder von Aggressionen noch von Furcht überwältigen zu lassen.
DOWNTOWN Magazin: Wir wollen die Gelegenheit nutzen, um mit einigen dieser Filmklischees über Kung-Fu aufzuräumen. Bist du bereit dafür?
Göksel: Sicher.
DOWNTOWN Magazin: Da gibt es etwa den alten Meister Mr. Miyagi, der geheime Techniken lehrt, indem seine Schüler zunächst scheinbar unsinnige Übungen absolvieren müssen. Ist daran etwas Wahres?
Göksel: Kung-Fu ist weit weniger mystisch, als Filme es darstellen. Es gab zwar berühmte Meister, denen man Legenden andichtete, aber tatsächlich läuft vieles rational ab. Man lernt Schritt für Schritt, trainiert jahrelang und vertieft ständig die Details. Dieses Bild vom erleuchteten, magischen Meister ist eher filmische Romantik. In Wahrheit gibt es bodenständige Methoden, die über lange Zeit zu einem Können führen.



DOWNTOWN Magazin: Ein weiteres Klischee: Der ungeschickte Typ, der zwar ein gutes Herz hat, aber sonst wenig gebacken kriegt. Er wird vom Meister aufgenommen und schließlich zum Helden. Kann Kung-Fu Menschen verändern?
Göksel: Ja, das habe ich dutzendfach erlebt. Viele fangen schüchtern an und gewinnen mit der Zeit Selbstvertrauen, wirken ausgeglichener und bewegen sich nach einiger Zeit ganz anders. Andere kommen mit riesigem Ego und lernen, sich zu zügeln. Entscheidend ist das Umfeld: Wer bei einem aggressiven, großspurigen Lehrer trainiert, übernimmt vieles unbewusst. Genauso „infiziert“ man sich mit Gelassenheit, wenn der Lehrer diese ausstrahlt.


DOWNTOWN Magazin: Also steckt vielleicht hier und da ein Funken Wahrheit in den Filmen. Was ist mit den spektakulären Supermoves – Sprünge von Dächern, zerschlagene Betonplatten und dergleichen?
Göksel: Man kann sich so schulen, dass es für Außenstehende extrem wirkt, aber dahinter stecken physikalische und biomechanische Prinzipien. Wenn man den Körper effizient einsetzt, kommt selbst ein größerer Gegner ins Rutschen, während du stabil bleibst. Es sieht nach Zauberei aus, ist aber nur Technik und Gelenkausrichtung. Schon eine kleine Änderung der Ellenbogenposition kann eine enorme Wirkung haben.
DOWNTOWN Magazin: Kommen wir zum „echten“ Kung-Fu. Es hat kulturelle und spirituelle Wurzeln, die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende alt sind. Passen solche Traditionen noch in unsere moderne Zeit?
Göksel: Unbedingt. Letztlich geht es um Perfektion und Kontrolle, und das ist universell. Ob du gerade übst oder dich im Alltag einem Problem stellst – die Grundprinzipien sind ähnlich. Wenn du zum Beispiel bewusst und aufrecht stehst, Schultern locker lässt und ins Zwerchfell atmest, verändert das allmählich deine Körperhaltung und auch deine innere Haltung. Oft ist nicht das Problem an sich das Hindernis, sondern wie wir damit umgehen.
DOWNTOWN Magazin: Heißt das, es geht mehr um mich selbst als um den Gegner?
Göksel: Genau. Erst stärkst du deine eigene Position. Wo stehe ich, was macht mich stabil? Dadurch vermeidest du unkontrollierte Reaktionen. Manchmal merkt man erst dann, dass der Angriff gar nicht so bedrohlich ist. Und wenn du dich einmal stabil fühlst, kommt gleich der nächste Schritt. Je besser du wirst, desto mehr Druck spürst du vielleicht, aber dann heißt es: noch ruhiger und präziser werden. Das hört nie auf.



DOWNTOWN Magazin: Und wie läuft dein Training konkret ab? Du unterrichtest ja hauptsächlich Experten – gibst du auch Einzelstunden?
Göksel: Es hängt stark von der Erfahrung ab. Viele meiner Schüler haben bereits 15, 20 oder gar 40 Jahre Kung-Fu hinter sich und sind zum Teil schon über 60 Jahre alt. Da passt jemand mit ein paar Monaten Training nicht richtig hinein. Bei mir bekommt jeder eine kleine Übung, um zu spüren, wie sehr eine minimale Korrektur in Haltung oder Gelenkposition die Kraftübertragung verändert. Dieses „Aha!“ erlebt man erst, wenn man es selbst fühlt.
DOWNTOWN Magazin: Wie hast du es gelernt, so zu unterrichten?
Göksel: Es sind vor allem die Prinzipien: Kraft aus dem Boden, stabile Achse, Schwerkraft als gerader Vektor. Wer das konsequent anwendet, hat nicht viele Optionen. Oft steht einem aber das Ego im Weg. Selbst auf meinen Trainingsreisen in Hongkong habe ich gemerkt, dass manche ihre Prinzipien nicht konsequent durchziehen. Daher habe ich mich gefragt, was wirklich nötig ist, damit es biomechanisch stimmt, und daraus mein eigenes System entwickelt.
DOWNTOWN Magazin: Wie bist du ursprünglich zum Kung-Fu gekommen?
Göksel: Ich komme aus einem kleinen Ort bei Weil der Stadt. Als Kind wollte ich unbedingt boxen, aber mein Bruder machte Taekwondo und meine Schwester sagte: „Nimm den Kleinen mit.“ Also landete ich mit sechs oder sieben zunächst im Taekwondo. Später störte mich, dass wir dabei wenig mit den Händen machten. Boxen war aber zu weit weg, also wartete ich, bis ich selbst mobil war. Dann traf ich jemanden, der Ving Tsun trainierte. Das war vor 30 Jahren und es hat mich sofort gepackt.
DOWNTOWN Magazin: Gab es einen Schlüsselmoment, in dem dir klar wurde, dass das mehr als nur Sport für dich ist?
Göksel: Ich bin auch mit Bruce-Lee- und Jackie-Chan-Filmen aufgewachsen, aber der Show-Aspekt zog mich nicht so an. In meiner Ausbildung habe ich einen Kollegen getroffen, der echt ungesund lebte, aber im Ving Tsun sehr gut war. Er hat mich in der Umkleide regelrecht auseinandergenommen. Da dachte ich: „Wenn der das kann, was geht erst bei mir, wenn ich mich richtig reinhänge?“ Das war so ein Aha-Moment.


DOWNTOWN Magazin: Und wann hast du beschlossen, andere Meister zu unterrichten?
Göksel: Lange war ich nur „Keller-Trainer“ ohne offizielle Schule. Später kamen Leute mit großen Schulen zu mir. Wenn die etwas Neues lernen und ihren eigenen Schülern jetzt erklären müssen, dass manches bisher falsch war, ist das ein riesiger Schritt. Irgendwann wollten meine Trainingspartner, dass ich mehr unterrichte, also habe ich Räume gemietet und Kinder- sowie Gruppentraining angeboten. Aber manche suchten nur ein bisschen Bewegung und wollten gar nicht tiefer einsteigen. 2018 gründete ich deshalb meine Masterclass, bei der man mindestens zehn Jahre Vorerfahrung braucht. Das war anfangs hart, aber die Leute, die sich wirklich reinhängen wollen, haben genau das gesucht.
DOWNTOWN Magazin: Was macht einen guten Lehrer aus?
Göksel: Man muss sich in die Schüler hineinversetzen können. Ich habe jede Übung selbst durchlitten und weiß genau, wo die typischen Fehler liegen. Sage ich „Dreh dich ein bisschen hierhin“, spürt jemand sofort „Aha, viel leichter!“ – und spart oft Jahre. Wenn man diesen Prozess kennt und gut erklären kann, hilft das beim Training enorm.
DOWNTOWN Magazin: Kann man selbst als Anfänger schnell etwas mitnehmen?
Göksel: Durchaus. Ich beginne dann mit simplen Prinzipien wie Distanz und Position. Wer das mal gefühlt hat, erkennt: „Stehe ich zu nah, habe ich keine Chance.“ Solche Aha-Effekte bekommt man schon früh, man muss also keine 15 Jahre warten.


DOWNTOWN Magazin: Woran erkennt man eine gute Kung-Fu-Schule?
Göksel: Das ist schwer zu beantworten, weil jeder andere Ziele hat. Ich selbst war in sehr vielen Schulen, heute trainieren viele Schulleiter freiwillig nach meinem System. Ich verlange keine Verbandsgebühren oder Ähnliches, denn ich will unabhängig bleiben. „Freedom of Action“ nenne ich das. Sonst entstünde Druck, den ich nicht möchte, und das spiegelt sich im Kung-Fu wider. Man sollte sich immer frei entwickeln können.

DOWNTOWN Magazin: Viele Menschen kämpfen mit Stress und Ängsten. Gibt es eine einfache Übung aus dem Kung-Fu dafür?
Göksel: Wir haben zwar unsere sogenannte erste Form, die sehr auf innere Ruhe und Konzentration setzt, aber sie erfordert eigentlich eine Anleitung. Was man aber ohne großen Aufwand tun kann: Immer wenn du dich unwohl fühlst, nimm dir einen Moment und frag dich, warum das so ist. Oft kennen wir uns selbst zu wenig, reagieren impulsiv, ohne zu verstehen, was dahintersteckt. Das ist zwar leicht gesagt und schwer getan, aber genau diese Selbstreflexion ist ein wichtiger Teil des Kung-Fu-Gedankens.
DOWNTOWN Magazin: Wie gehst du mit Fehlern um?
Göksel: Fehler sind unverzichtbar. Ohne sie erfährst du nicht, wo du Schwächen hast. Wichtig ist, sie bewusst zu analysieren. Manchmal stimmt etwa der Stand nicht und die Technik wirkt deshalb fehlerhaft. Im Chinesischen sagt man: „Die Korrektur beginnt bei der Wurzel.“ Wenn die Basis falsch ist, scheitert alles Weitere.


DOWNTOWN Magazin: Ist Kung-Fu eher defensiv oder offensiv?
Göksel: Den Mythos „Es wurde von einer Frau entwickelt und ist daher reine Selbstverteidigung“, halte ich für eine Verkaufsstrategie. Im Kern geht es um Effizienz und Explosivität: Gerade wer körperlich unterlegen ist, sollte mechanisch optimal agieren. Das bedeutet nicht, blind draufzuhauen – im Gegenteil. Oft ist es aber von Vorteil, zuerst zu agieren, weil man so bestimmt, wohin der Kampf läuft. Man setzt den Gegner unter Druck und zwingt ihn in eine Situation, die man vorbereitet hat. Richtig ausgeführt, kann das sehr aggressiv sein – aber das Ziel ist, größere oder stärkere Gegner durch kluge Winkel und biomechanische Vorteile zu überwinden.

DOWNTOWN Magazin: Zum Abschluss: Hollywood ruft an und will einen realistischeren Kung-Fu-Film. Was würdest du ändern?
Göksel: Hollywood braucht spektakuläre Szenen, damit es im Kino knallt. Die Wahrheit sieht aber meist unscheinbarer aus, weil echter Kampf oft nur wenige Sekunden dauert. Würde man das realistisch zeigen, wäre es weniger „Wow-Effekt“. Ein paar Moves, kurze Aktion – dann ist schon alles vorbei. Der Kinobesucher will aber große Dramatik. Darum hätte ich als Berater nur einen Tipp: Macht ruhig ein bisschen Show, aber verzichtet darauf, es wie Magie aussehen zu lassen. Selbst in den schnellsten Techniken steckt nichts Übernatürliches – es sind nur harte Arbeit, Timing und biomechanische Prinzipien.
DOWNTOWN Magazin: Vielen Dank Göksel, für deine Zeit und diese spannenden Einblicke in die Welt des Kung-Fu – und den Blick hinter die Filmkulissen!

Words: Jonny Grapentin Photos: Robin Schmitt