Wir sind hoch hinaus – auf eine Alpe im Bregenzerwald. Dorthin, wo Heidi und Karl-Heinz nicht auf der Terrasse sitzen, sondern auf der Weide stehen. Denn so heißen hier die Kühe, Kälber und Ochsen. Wo Rehe in der Nacht schrecken, Gämse über die Hänge springen und der Sternenhimmel so nah scheint, als könnte man nach ihm greifen.

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Hier, fernab jeder Großstadt, haben wir uns mit dem ehemaligen CEO und Manager Michael Jäger getroffen – jemand, der über ein Jahrzehnt ein internationales IT-Unternehmen geführt, Expansionen und Krisen gemeistert, Märkte erobert und wieder verlassen hat. Heute steht er in Gummistiefeln im feuchten Gras, hütet Kühe und trinkt mit uns Wein und Instant Coffee. Kein Flipchart, keine KPIs, keine Ratschläge, sondern eine Auszeit für neue Perspektiven.

Ungewissheit ist Leben

Unser Aufstieg war steil und ungewiss. Wir hatten eine grobe Vorstellung davon, wo die Berghütte liegen sollte. Aber die Karten waren widersprüchlich, die Hinweise vage. GPS oder Handyempfang? Fehlanzeige. Also blieb uns nichts übrig, als den Weg zu wählen, der uns am „richtigsten“ erschien. Zwischendurch kamen die Zweifel. Sind wir überhaupt auf dem richtigen Weg? Wie weit ist es noch? Und da wir schon beim Zweifeln und Überlegen waren – wir kannten unseren Gastgeber Michael auch nicht wirklich: Wie wird es mit ihm? Was erwartet uns dort oben?

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Hätten wir die Fragen schon im Vorhinein beantworten können, hätten wir gar nicht mehr weiter hinaufsteigen müssen. Leider ist das häufig im Leben so: Wir tauschen die Neugierde und die Ungewissheit gegen Komfort und Sicherheit. Das klingt erst mal vernünftig – ist aber trügerisch. Denn wenn wir immer bereits meinen zu wissen, was uns erwartet, dann bleibt unser Leben stehen – und vergeht dabei wie im Fluge. Der eigentliche Sinn des Lebens, zu leben, zu erfahren, zu spüren – geht dabei verloren. Wir existieren noch, haben aber aufgehört zu leben.

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„Wir“ – mehr als wir denken

An der Hütte angekommen, empfängt uns Michael mit einer herzlichen Umarmung. Wir hatten uns nur einmal kurz auf einer Geburtstagsfeier gesehen – und jetzt stehen wir hier, kennen uns (noch) nicht, aber spüren sofort: Die Chemie stimmt.

„Wir“, das waren Robin – Gründer dieses Magazins, der sein Leben konsequent nach seinen eigenen Vorstellungen gestaltet und genauso konsequent die Türen für neue Wendungen und Überraschungen des Lebens offen lässt. Denn wer weiß schon, was tatsächlich in 5 Jahren ist? Lena – eine Stuttgarterin, die ein außergewöhnliches Arbeits-Lebensmodell für sich gefunden hat, in dem sie 8 Monate mit vollem Elan arbeitet und 4 Monate frei hat, um den Winter zum Surfen in Costa Rica zu verbringen. Und dann noch Michael, der ehemalige Top-Manager, der nach einer Coachingausbildung sein Leben komplett umgekrempelt und sich nun als Unternehmensberater selbständig gemacht hat.

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Wer spricht am lautesten? Und wem hören wir zu?

Wir setzen uns mit Tee vor die Hütte. Noch vor ein paar Stunden steckten wir noch im Stuttgarter Stau, jetzt sitzen wir mitten in der Idylle des Bregenzer Walds. Fernab der Zivilisation. Fernab der Geschäftigkeit des Lebens. Ein Szenenwechsel genügt, um in eine neue Welt eintauchen.

Die Gedanken kreisen noch, doch bald philosophieren wir über das Leben, tauschen Ansichten, Ängste und Erfahrungen. Die Stunden fliegen, die erste Flasche Rotwein ist schnell geöffnet.

Michael erzählt von seiner Coaching-Ausbildung. Was wir als „Ich“ empfinden, sagt er, ist eigentlich ein „wir“. Denn in jedem von uns stecken mehrere Stimmen, Bedürfnisse und Gewohnheiten. Manche lassen wir laut reden, andere unterdrücken oder ignorieren wir. Welcher Stimme wir in uns zuhören, entscheidet darüber, wie wir sind. Welche unserer Seiten leben wir aus? Welche nicht?

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Unsere Überzeugungen und Routinen formen unsere Realität – so tief verankert, dass wir sie selten hinterfragen. Hier hilft das 180°-Prinzip: Alles einmal komplett umdrehen – schließlich hat alles Positive auch eine Schattenseite. Was wäre, wenn wir das Gegenteil annehmen oder tun würden? Den Schlüssel für solche Experimente liefert Michael gleich mit:

Wer innehält, gewinnt die Freiheit zu entscheiden.

Der „Frankl’sche Raum“ beschreibt: Zwischen Reiz und Reaktion liegt die eigene Freiheit. In dieser kurzen Pause können wir fragen: Will ich so reagieren? Was will ich bewirken? Gibt es einen anderen Weg – und muss ich überhaupt reagieren?

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Warum sollten DIE es besser wissen?

Der rauchig-heimelige Duft von frischem Feuer steigt mir in die Nase. Langsam öffne ich die Augen, sehe die karierte Decke und frage mich: Träume ich noch? Idyllischer hätte kein Tag starten können. Der Schädel ist auch ok, trotz einigen Tropfen Rotwein und Schnaps am Abend. In meiner Unterhose schleiche ich leise die Treppe hinunter und treffe Michael, der den Herd mit Holz befeuert und gerade heißes Wasser für den Morgenkaffee macht. Kein fancy Siebträger-Speciality-Coffee mit Hafermilch. Stattdessen: Instantkaffee. Und in diesem Setting schmeckt der wie das Beste der Welt.

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Ich schnappe mir eine Tasse und gehe vor die Tür, genieße die Aussicht und denke an unsere gestrigen Gespräche. Dabei wird mir bewusst, wie schön es war, mal keine Ratschläge erhalten zu haben – sondern dass mir einfach nur zugehört wurde und wir unterschiedliche Erfahrungen ausgetauscht haben.

Ich erinnere mich noch gut an Marrakesch im Herbst 2021. Mein Vater Manne und ich waren im Getümmel der Souks rund um Djemaa el Fna unterwegs. Alle 5 Meter hielt uns ein Verkäufer an, jeder meinte genau zu wissen, was wir jetzt brauchen. „Lustig“, sagte mein Vater, „hier glaubt jeder, besser als ich zu wissen, was ich will.“ Vielleicht liegt darin der Kern: Die Welt ist voller Ratschläge – manche sind gut gemeint, andere Humbug. Aber den eigenen Weg kann man nur selbst gehen. Die Crux: im Alltag sind wir so beschäftigt, so überflutet von Reizen, dass wir kaum mehr auf uns selbst hören. Und auf einmal werden Logik, Moral oder Ratschläge lauter, als unsere innere(n) Stimme(n). Dabei sind sie unser ultimativer Kompass – vorausgesetzt, wir haben gelernt, ihnen zu vertrauen. Und das ist der Grund, warum wir alle nicht nur regelmäßig eine Auszeit nehmen sollten, sondern müssen!

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Warum es gut tut, Menschen zu verlieren

Beim Frühstück sprechen wir über Mut. Darüber, dass Mut ein Muskel ist, den man wie den Bizeps trainieren kann. Dass Mut, das eigene Leben zu leben und sich selbst auszuleben, ein Keim ist, den wir gießen sollten. Und wir sprechen darüber, wie viel Mut es tatsächlich braucht, sein Leben so umzugestalten, dass es sich wirklich richtig anfühlt. So richtig, dass man morgens aufwacht und spürt: Ja, das bin ich. Die Wahrheit ist: Viele bleiben lieber in einer toxischen Beziehung oder in einem Leben, das ihnen längst nicht mehr gut tut – einfach weil das Bekannte noch immer bequemer erscheint als das Unbekannte.

Viele von uns haben Angst, missverstanden zu werden oder Leute vor den Kopf zu stoßen, einfach weil die unmittelbaren Reaktionen schmerzhaft sein können. Aber was, wenn wir das Ganze einmal um 180 Grad drehen? Vielleicht ist es wichtig, immer wieder Leuten vor den Kopf zu stoßen oder sie sogar ganz aus dem eigenen Leben zu verlieren. Was wäre, wenn genau dieser Verlust ein Gewinn wäre? Und wir nur Platz für Menschen machen, die besser zu der neuen Person passen, die wir werden? Man begegnet im Leben immer unterschiedlichen Arten von Menschen: Diejenigen, denen deine Träume Angst machen und dir mit gut gemeinten Ratschlägen „bist du dir sicher?“, „willst du das wirklich?“ Zweifel säen. Diejenigen, die nur happy sind, wenn es dir schlecht geht. Und diejenigen, die sich ehrlich freuen, wenn es dir gut geht und dich wachsen sehen wollen. Rhetorische Frage: Willst du wirklich all diese Menschen in deinem Leben behalten? Wie würde sich dein Leben anfühlen, wenn gewisse Blocker, Neider oder Miesepeter nicht mehr da wären?

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Wann hast du dein Leben das letzte Mal von oben betrachtet?

Hier oben scheint die Zeit anders zu ticken. Das dämmert uns langsam, aber Michael bringt es auf den Punkt, mit einer Klarheit, die hängen bleibt. Als Tourist sieht man die Berge nur in kleinen Ausschnitten – und selten die schönsten Seiten. Erst wenn man in ihnen verweilt, sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, von der blauen Stunde, in der tiefen Nacht bis zur Morgenröte vor sich hat, man Regen wie Sonne, Nebel und Wolken durchlebt, merkt man: die Berge sind immer die gleichen und doch sind sie jeden Tag anders. Und so ist es auch mit der inneren Stimme. Eine Auszeit nehmen und am Strand rumgammeln kann jeder. Aber sich selbst stellen? Das machen die wenigsten. Doch genau dort beginnt die Freiheit. Und jeder weiß: Das Leben belohnt die Mutigen.

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Der Geruch des Feuers hat uns das ganze Frühstück lang begleitet. Die Sonne steht schon steiler und wir machen uns bereit für eine Wanderung, nachdem wir kurz nach den Kühen geschaut haben. Wie es weitergeht? Verraten wir euch nicht – denn das ist unsere Auszeit und unser Weg. Wir wollen euch ermutigen, eure eigene Auszeit zu nehmen. Wir wollen auch keine Antworten liefern, sondern die richtigen Fragen stellen. Beantworten muss man sie selbst. Nicht hier und jetzt. Sondern in aller Ruhe. Vielleicht bei einer Auszeit in den Bergen. Oder am Meer. Oder beim Bikepacking. Oder bei Spaziergängen im heimischen Wald. „Unsere“ Berge haben uns nicht gesagt, wohin wir gehen sollen. Aber sie haben uns gezeigt, wie es sich anfühlt, wenn man den eigenen Weg einschlägt.

Hier ein paar Fragen, die euch helfen können:

  • Wie fühlt sich mein aktuelles Leben an?
  • Wenn ich mein aktuelles Leben aus der Vogelperspektive betrachte, gefällt es mir?
  • Lebe ich nach meinen Vorstellungen oder nur nach den der Anderen?
  • Was wäre, wenn ich es 180° anders machen würde?
  • Ungeachtet von dem, wo ich gerade bin: Worin will ich meine Lebenszeit investieren?
  • Was will ich wirklich machen? Was passiert, wenn ich es einfach mal ausprobiere? Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte? Und ist das wirklich so schlimm?
  • Woran halte ich fest, obwohl es mich bremst?

Michael ist im Sommer für ein paar Wochen auf der Alpe – und mit etwas Glück kann man ihn besuchen. Dort empfängt er nur wenige Klienten, aber im Bregenzerwald ist es so oder so auch immer schön. Ein Versuch ist es allemal wert: michael-jaeger.at

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Words: Robin Schmitt Photos: Robin Schmitt